Wenige Tage nach dem Tod ihres Mannes wurde die Hartz-IV-Empfängerin aufgefordert, die Wohnung zu räumen. Sie sei nun zu groß für die Familie.
Kaltenkirchen. Über eine auf dem Holzboden liegende Action-Figur für Kinder und ein Paar Hausschuhe stolpern Besucher als Erstes, wenn sie der vierjährige Sohn von Ayla Thabit (Name von der Redaktion geändert) in ihre gemütlich eingerichtete Wohnung in Kaltenkirchen hereinlässt. Draußen auf dem Balkon flattert die nasse Wäsche im Wind; drinnen im Wohnzimmer stapeln sich die Briefe des Jobcenters auf dem Schreibtisch. Es sind Briefe, die es in dieser Form nicht geben dürfte und die der 40-Jährigen den Schlaf rauben.
Vor wenigen Wochen erst ist der Mann der gebürtigen Marokkanerin an Krebs verstorben. Seinetwegen war sie 2003 ins ferne Deutschland ausgewandert. Zeit, den Verlust zu verarbeiten und einmal durchzuatmen, bleibt der Hartz-IV-Empfängerin nicht: Behördengänge müssen erledigt werden, die Beerdigung geplant und der Tod ihres Mannes natürlich auch beim Jobcenter angezeigt werden.
Dort aber interessiert man sich nicht sonderlich für diesen Einzelfall. Stattdessen erhält Ayla Thabit nur zwei Tage später einen Brief, der ihr die Fassung raubt: Die 62-Quadratmeter-Wohnung sei jetzt zu teuer, schließlich würden nach dem Tod ihres Mannes nur noch drei statt vier Personen in der Bedarfsgemeinschaft leben. Das Jobcenter Kaltenkirchen droht mit Rausschmiss, sechs Monate habe sie Zeit, um sich eine günstigere Wohnung zu suchen.
Normalerweise warten die Sachbearbeiter acht Wochen
Ayla Thabit ist geschockt: "Es war einfach zu viel. Ich wusste nicht, was ich machen sollte." Eine günstigere als die ohnehin enge Wohnung zu finden, ist schwer. Die Familie besitzt kein Auto, ist deshalb darauf angewiesen, in der Nähe von Kindergarten, Schule und Bahnhof zu wohnen.
Selbst für ein Jobcenter ist der Brief ein starkes Stück. Inhaltlich ist er zwar richtig und rechtlich unbedenklich; in der gängigen Praxis zeigen sich die Sachbearbeiter aber in der Regel pietätvoller und warten nach Todesfällen acht Wochen mit der "Aufforderung zur Senkung der Unterkunftskosten", wie die oft als Drohung empfundene Anweisung im Beamtendeutsch heißt.
Auch der Verstorbene wird vom Jobcenter persönlich angeschrieben
Damit nicht genug, erhält die 40-Jährige in dieser schweren Zeit immer wieder an ihren Mann adressierte Briefe. Auch das mittlerweile ja persönlich von Thabit informierte Jobcenter fordert den Verstorbenen schriftlich auf, sich mit einem Sachbearbeiter zu treffen.
All diese Geschmacklosigkeiten nimmt die Mutter zwar wahr, ihre größte Sorge ist aber, die Wohnung nicht behalten zu dürfen. Konkret geht es um nur 44 Euro im Monat, um die die Wohnung nach dem Tod des Mannes zu teuer ist. Aktuell liegt die Höchstgrenze in Kaltenkirchen bei 463,50 Euro für eine Bedarfsgemeinschaft mit drei Personen.
Erst die Hilfe von Bekannten bringt die Wende: Hans-Werner Machemehl, Kreisvorsitzender der Partei Die Linke, erfährt von der Notlage der Witwe auf der Beerdigung seines Freundes. Nachdem er seine Empörung in einer Presseerklärung in die Öffentlichkeit getragen hat, bemerkt das Jobcenter den Fauxpas der Sachbearbeiterin.
Wie unangenehm auch der Leitung der Agentur der Brief ist, zeigt die Reaktion des Geschäftsführers: Michael Knapp fackelt nicht lange, fährt kurz entschlossen mit einem Blumenstrauß zu Ayla Thabit und entschuldigt sich in aller Form. Obwohl der geschmacklose Brief der Sachbearbeiterin rein dienstlich nicht falsch ist, da es keine ausdrücklichen Regelungen für diesen Fall gibt, findet Knapp deutliche Worte. "Das ist eine traurige Sache, für die ich mich schäme. Das Verhalten der Mitarbeiterin ist herzlos und inakzeptabel. Zwar stehen die Sachbearbeiter unter hohem Zeitdruck, so etwas darf aber nicht passieren, und das wird es in Zukunft auch nicht mehr."
Der offene Umgang des Jobcenters mit der misslichen Lage und die ehrlich gemeinte Entschuldigung kamen auch für Ayla Thabit überraschend. "Ich habe das so nicht erwartet. Ich bin niemandem mehr böse. Für mich geht es nur noch um die Sache", sagt sie. Auch in der half aber die Presseerklärung von Hans-Werner Machemehl entscheidend weiter. Mit der Entschuldigung überbrachte Michael Knapp auch die Mitteilung, dass das Schreiben gegenstandslos sei. Das Jobcenter nutzt in diesem Fall den geringen Ermessensspielraum, der dem Amt bleibt.
Das Vertrauen in die Mitarbeiter des Jobcenters hat Ayla Thabit jedoch verloren. "Ich bin mir erst sicher, dass ich hier bleiben darf, wenn ich das ganze schriftlich habe", sagt sie und macht deutlich, dass sie schon wieder andere Sorgen hat. Erneut ist ein Brief vom Jobcenter gekommen. Diesmal soll sie mehr arbeiten oder zumindest ihre Bemühungen dokumentieren, sonst müssten die Leistungen gekürzt werden. Thabit, die als Putzkraft arbeitet, fehlt allerdings die Zeit. Mehr als zuvor muss sie sich jetzt um ihre Kinder kümmern und die beiden ab mittags betreuen. Obwohl sie weiß, dass es ausreicht, ihre Bewerbungen zu dokumentieren, und obwohl sie jeden passenden Job nehmen würde, fehlt ihr das Vertrauen: Was bleibt, ist die Angst vor einer Kürzung der Leistungen.