Rechte Terrorzelle aus Thüringen soll 2001 Attentat in Köln verübt haben. Jenaer Pfarrer: Entwicklung der NSU war offenes Geheimnis.
Düsseldorf/Köln/Jena/Karlsruhe. Die Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) ist möglicherweise für einen weiteren Anschlag verantwortlich. Die Analyse der Bekenner-DVD "durch die Ermittler des Landeskriminalamtes hat jetzt Hinweise auf einen bisher unaufgeklärten Sprengstoffanschlag in der Kölner Innenstadt im Jahr 2001 ergeben“, teilte der nordrhein-westfälische Innenminister Ralf Jäger (SPD) am Montag in Düsseldorf mit. Im Januar 2001 war eine damals 19-jährige Deutsch-Iranerin bei einem Sprengstoffanschlag auf ein Kölner Lebensmittelgeschäft schwer verletzt worden. Ein rechtsextremistischer Hintergrund wurde bereits seinerzeit nicht ausgeschlossen.
Derweil hat die Bundesanwaltschaft offiziell Ermittlungen gegen die NSU wegen des Anschlags mit einer Nagelbombe in Köln aufgenommen. Das bestätigte ein Sprecher der Behörde am Montag in Karlsruhe. Bei dem Attentat in einer von vielen Migranten bewohnten Straße im Jahr 2004 waren 22 Menschen zum Teil schwer verletzt worden. Viele von ihnen waren türkischer Herkunft. Nach Medienberichten hat sich die NSU in einem Bekennervideo mit der Tat gebrüstet.
Nach Auskunft der Bundesanwaltschaft wird gegen die mutmaßlichen NSU-Mitglieder derzeit außerdem wegen neun Morden an ausländischen Kleingewerbetreibenden ("Döner-Morde“) und dem Mordanschlag auf zwei Polizisten in Heilbronn 2007 ermittelt. Zudem sollen mehrere Banküberfälle auf das Konto der Täter gehen. Nach Angaben aus Ermittlerkreisen prüfen die Polizeibehörden der Länder, ob weitere, bislang nicht aufgeklärte Taten möglicherweise auf das Konto der Rechtsterroristen gehen.
Der am Sonntag in der Nähe von Hannover festgenommene mutmaßliche Helfer des Zwickauer Trios, der 37-Jährige Holger G., sollte nach Angaben der Bundesanwaltschaft noch im Laufe des Montags dem Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs (BGH) in Karlsruhe vorgeführt werden. Zur Frage nach möglichen weiteren Beteiligten machte der Sprecher keine Angaben. Das Umfeld der Beschuldigten werde jedoch "intensiv ausgeleuchtet“.
Bereits am Sonntag hatte der Ermittlungsrichter Haftbefehl gegen das mutmaßliche NSU-Gründungsmitglied Beate Zschäpe aus Jena erlassen. Zwei weitere Mitglieder der Gruppierung hatten sich am 4. November selbst umgebracht.
Jenaer Jugendpfarrer: NSU-Strukturen waren bekannt
Während Taten und Struktur der NSU nach und nach aufgeschlüsselt werden, entzündet sich an der Zwickauer Neonazi-Zelle eine Debatte über ein neues Verbotsverfahren gegen die rechtspopulistische Partei NPD. Und auch der Verfassungsschutz rückt angesichts des von vielen als unzulänglich erachteten Ermittlungsverfahrens in den politischen Fokus.
Angesichts der Mordanschläge, die der aus Thüringen stammenden Terrorgruppe angelastet werden, sieht der Jenaer Jugendpfarrer Lothar König deutliche Defizite beim Verfassungsschutz. Nach Aufklärung des Bombenfunds von 1998 sei das Untertauchen der drei ermittelten Neonazis in Sachsen unter Sicherheitsleuten "ein offenes Geheimnis“ gewesen, sagte König am Montag in der Thüringer Universitätsstadt. "Die Strukturen des 'nationalsozialistischen Untergrunds' haben sich nicht unbeobachtet entwickelt“, fügte der Leiter der "Jungen Gemeinde Stadtmitte“ hinzu.
Die drei Neonazis seien mit dem damaligen "Thüringer Heimatschutzbund“ und den "freien Kameradschaften“ eng verwoben gewesen. Auf das Konto der Vereinigungen seien damals allein in Thüringen pro Monat bis zu drei Überfälle gegangen. Vor diesem Hintergrund sei ihm völlig unverständlich, weshalb das Landeskriminalamt 1998 die Freilassung der Tatverdächtigen durchgesetzt habe, sagte Pfarrer König unter Berufung auf "glaubhafte Informationen“. Er sei überzeugt, dass die Neonazis in den 90er Jahren beim Aufbau ihrer Strukturen durch eingeschleuste V-Leute "im wesentlichen vom Verfassungsschutz profitiert“ haben.
König war bundesweit bekannt geworden, als er nach seinem Protest gegen einen Aufmarsch von Neonazis im Februar dieses Jahres in Dresden in das Visier sächsischer Ermittlungsbehörden geriet. Angesichts des bundesweiten rechtsextremen Terrors habe er nunmehr "nach 13 Jahren und zehn Toten“ die Hoffnung, dass die "ideologische Herangehensweise“ beim Kampf gegen jede Form von politischem Extremismus durchbrochen wird, sagte der evangelische Jugendpfarrer. Rechtsextremismus werde mit dem Verweis auf die Bedrohung durch den Linksextremismus häufig heruntergespielt. "Dieser Grundfehler hat den Blick für die Realität verstellt.“
Zugleich sprach sich König gegen einen neuen Anlauf für ein Verbot der NPD aus. Parteien könne man verbieten, nicht aber die Verbreitung ihres Gedankengutes, sagte der Theologe. Politik und Gesellschaft müssten sich deshalb der Frage stellen, woher die Neonazis die moralische Kraft und das wirtschaftliche Potenzial nehmen, ihre Strukturen aufzubauen und am Leben zu erhalten.
Debatte über NPD-Verbotsverfahren
Die vermutlich von Neonazis verübte Mordserie an Ausländern stellt nach Ansicht der Linken die Wirksamkeit der geheimdienstlichen Beobachtung der rechten Szene infrage. "Warum blieben die Taten so lange unaufgeklärt, wenn so viele V-Leute aktiv sind“, fragte der Linke-Fraktionschef im Schweriner Landtag, Helmut Holter, am Montag. Er forderte erneuert den Abzug der V-Leute, um ein NPD-Verbotsverfahren zu ermöglichen. Wie Holter votierten auch die Fraktionschefs von SPD und Grüne, Norbert Nieszery und Jürgen Suhr, dafür, Rechtsterrorismus und mögliche Aufklärungspannen im Landtag zu thematisieren. Podium könne die Kontrollkommission des Parlaments für die Arbeit des Verfassungsschutzes sein. Zu der Mordserie soll auch der gewaltsame Tod eines Imbissbetreibers in Rostock 2004 gehören.
Linken-Parteichef Klaus Ernst spricht sich für eine parteiübergreifende Initiative für ein neues NPD-Verbotsverfahren aus. "Ich bin dafür, dass wir den Versuch machen, im Bundestag eine überparteiliche Resolution für ein neues NPD-Verbotsverfahren auf die Beine zu stellen", sagte Ernst dem Hamburger Abendblatt (Dienstag-Ausgabe). Je breiter die Zustimmung dafür werde, desto schwerer wäre die Initiative zu ignorieren. "In allen Parteien wächst der Konsens, dass wir die NPD als legalen Arm der braunen Zellen verbieten müssen", betonte der Parteichef.
Ernst erklärte zudem, seit der Bundestagswahl 2009 habe es rund 150 gewalttätige Angriffe auf Büros seiner Partei gegeben. "Mittlerweile wird im Schnitt alle zwei Tage eins unserer Parteibüros von Rechten angegriffen, Tendenz weiter steigend." Es müsse Schluss sein mit der Verharmlosung der Gefahr von rechts.
+++ Mordserie von Neonazis wird zur Staatsaffäre +++
Die zuständigen Ermittler griff Ernst scharf an. "Alles sieht danach aus, als ob der Verfassungsschutz nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems ist. Es ist ja absurd, dass man die NPD wegen der V-Leute in ihren Strukturen nicht verbieten kann, während der Verfassungsschutz offenbar nicht in der Lage ist, Terrorgruppen zu enttarnen, wenn sie vor den Augen der eigenen V-Leute operieren", sagte Ernst dem Abendblatt.
Wegen der rechtsextremen Mordserie hatte sich bereits der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) für ein neues Verfahren zum NPD-Verbot ausgesprochen. Herrmann sagte am Sonntagabend in der ARD-Sendung "Günther Jauch“, das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe müsse die rechtlichen Hürden dafür überdenken.
Der Bundesvorsitzende der Grünen, Cem Özdemir, forderte ebenfalls, "ernsthaft über das NPD-Verbot nachzudenken“. Er warnte aber vor zu hohen Erwartungen. Ein Verbot könne vom eigentlichen Thema ablenken. "Wir müssen darüber reden, dass NPD und Rechtsradikale in manchen Teilen Deutschlands, vor allem im Osten unserer Republik, hegemonial geworden sind“, also eine Vormachtstellung anstrebten.
Bosbach skeptisch zu NPD-Verbostverfahren
Während sich auch die Gewerkschaft der Polizei (GdP) für ein Verbot der NPD ausspricht, das den Sicherheitsbehörden sehr helfen würde, äußerte sich der Vorsitzende des Bundestagsinnenausschusses, Wolfgang Bosbach (CDU) skeptisch. "Die dramatischen Erkenntnisse der letzten Tage ändern nichts daran, dass sich der Staat seit dem plötzlichen Aus des NPD-Verbotsverfahrens 2003 dank Karlsruhe in einem echten Dilemma befindet“, sagte er dem "Kölner Stadt-Anzeiger“ (Montagsausgabe).
Das Gericht verlange, dass vor einem neuen Antrag alle V-Leute abgezogen werden, so Bosbach. Doch seien die Behörden zur Gefahrenabwehr dringend auf Infos aus dem Innenleben der Partei angewiesen. Ein erneutes Verfahren würde Jahre dauern: "Und deshalb wäre der Erkenntnisverlust gerade wegen der Gefährlichkeit der NPD höchst riskant.“
Der GdP-Vorsitzender Bernhard Witthaut sagte der "Passauer Neuen Presse“ (Montagsausgabe), die Frage des NPD-Verbots stelle sich jetzt um so dringender. Die GdP fordere dies seit längerem. Die NPD könnte dann keine regulären Parteitage mehr abhalten. Sie hätte "von einem Tag auf den anderen ihre finanzielle Basis verloren“, sagte Witthaut: "Eine braune Terrorzelle wird man mit einem neuen Verfahren sicherlich nicht verhindern können. Ein NPD-Verbot wäre aber ein schwerer Schlag für die gesamte rechtsextreme Szene in Deutschland.“
Zuvor hatte bereits die frühere Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, ein NPD-Verbot gefordert. Alle juristischen Möglichkeiten müssten ausgelotet werden, "um die Verherrlichung des Nationalsozialismus auf unseren Straßen zu verhindern“, sagte Knobloch bei einer Gedenkfeier zum Volkstrauertag am Sonntag in München.
Bundesjustizministerin will Verfassungsschutz umstrukturieren
Derweil fordert Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger wegen der Terror-Serie der Zwickauer Neonazi-Zelle eine Umstrukturierung des Verfassungsschutzes. Die Aufklärung habe "überhaupt nicht funktioniert“ und Neonazis hätten mit für Deutschland "fürchterlichen Folgen“ agieren können, sagte die FDP-Politikerin am Montag im Deutschlandfunk.
Es müsse darüber geredet werden, ob der Verfassungsschutz mit 16 Landes- und einer Bundesbehörde "optimal organisiert“ ist, forderte sie. Eventuell könnten mehrere Landesbehörden zusammengelegt werden. Eines neues Verfahren wegen eines NPD-Verbot schloss sie aus, solange die Rolle der V-Männer nicht geklärt ist.
Muslime: Rechtsterrorismus "chronisch unterschätzt“
Der Zentralrat der Muslime in Deutschland beklagt eine "lange Kette“ von Gewalt gegen Muslime. Seit mindestens 20 Jahren werde der Rechtsterrorismus in Deutschland "chronisch unterschätzt“, sagte der Zentralrats-Vorsitzende Aiman Mazyek der "Neuen Osnabrücker Zeitung“ (Montagsausgabe).
Allein in diesem Jahr habe es bereits 20 Anschläge auf Moscheen gegeben, außerdem auf muslimische Gemeindehäuser und Wohnhäuser von Migranten, sagte Mazyek. Die Vorfälle reichten von Farbschmierereien über Sachbeschädigungen bis zu Körperverletzungen und Morden. "Die Serie der Gewalt gegen Migranten nahm ihren Anfang mit den schlimmen Brandanschlägen in Mölln und Solingen Anfang der 90er und ist seither nie wirklich zum Stillstand gekommen“, so der Zentralratsvorsitzende.
"Offensichtlich konnte der Rechtsterrorismus in Deutschland unbehelligt grassieren, weil die Behörden zu sehr in Richtung religiös motivierter Täter geblickt haben“, kritisierte er. Sicherheits-, Antiterror- und Überwachungsgesetze seien in den vergangenen Jahren permanent verschärft worden, ohne dass die Zwickauer Täter von dem Netz erfasst worden wären. "Da fragen wir uns, warum diese Maßnahmen beim Rechtsterrorismus versagt haben.“ Angeblich seien die Antiterror-Gesetze doch nie gezielt gegen Muslime, sondern gegen Bandenkriminalität und Terror jeglicher Art erlassen worden.
Wie am Wochenende bekannt wurde, soll Erkenntnissen der Polizei eine Zwickauer Neonazi-Gruppe aus zwei Männern und einer Frau für eine Mordserie an neun ausländischen Ladenbesitzern in mehreren deutschen Städten zwischen 2000 und 2006 verantwortlich sein. Das Trio wird auch verdächtigt, den Mord an einer Polizistin in Heilbronn 2007 begangen zu haben. Die Bundesanwaltschaft ermittelt.
Mit M a terial von dpa, dapd und epd