Sozialdemokraten fühlen sich trotz Stimmeneinbußen als Sieger in Berlin. Grüne gewinnen dagegen Prozente und sind dennoch Wahlverlierer.
Berlin. Um kurz vor 19 Uhr sind sie zum ersten Mal alle beisammen im Abgeordnetenhaus. Alle? Nein, Klaus Wowereit gefällt es so gut auf seiner Wahlparty im Prenzlauer Berg, dass er die Interviewrunde der Spitzenkandidaten im ZDF lieber schwänzt. Aus der Kulturbrauerei lässt er sich kurz zuschalten, um zu sagen, dass er mit den Grünen mehr Schnittmengen sieht als mit der CDU, aber dass er mit beiden sprechen werde. Die Frage, ob er sich jetzt vorstellen könne, bei der SPD-Kanzlerkandidatur mitzureden, soll er nun auch noch beantworten. Wowereit, der als Vizechef der SPD ohnehin zum engsten Machtzirkel gehört, antwortet schroff und einsilbig. Alles sei dazu gesagt, seine Aufgabe sei die des Regierenden Bürgermeisters. Diese sei auf fünf Jahre angelegt. Punkt. Viel mehr will der Wahlsieger lieber nicht von sich preisgeben an diesem Abend, an dem es sich doch so schön feiern lässt.
In der Kulturbrauerei, dort, wo es Wowereit so gut gefällt, hat er vielleicht auch nicht mitbekommen, dass die Stimmung im Fraktionssaal der SPD im Abgeordnetenhaus deutlich weniger euphorisch ist. Eigentlich könnte man sich auch hier ein bisschen mehr freuen, aber weder beim Bekanntwerden der Prognosen noch im weiteren Verlauf der Hochrechnungen brandet Applaus auf. Was also ist es, das diesen Wahlsieg bitter schmecken lässt? Am Ende des Tages sind es doch einige Prozentpünktchen zu viel, die die Sozialdemokraten abzugeben haben. Und vielleicht werden die Zeiten für die Sozialdemokraten nun etwas rauer, da man sich einen neuen Koalitionspartner suchen muss. Die Konstellation, die Wowereit zehn Jahre an der Macht gehalten hat, wird ihn nun nicht mehr in eine dritte Amtszeit tragen können. Eine Fortsetzung der Koalition mit der Linkspartei wird es nicht geben.
Die Frage der Partnerwahl hatte schon in der heißen Wahlkampfphase Rote und Grüne weitaus mehr beschäftigt als die Frage, ob und wie man Wowereit vielleicht noch schlagen könne. Auf eine Koalitionsaussage hatte der Bürgermeister stets verzichtet, aber eine Hauptbedingung für ein Bündnis formuliert: Sein Juniorpartner solle wirtschaftsfreundlich sein.
Vor allem deswegen hegen führende Grüne den Verdacht, Wowereit bahne im stillen Kämmerlein eine Große Koalition mit der CDU an. Dann schon lieber Rot-Grün - und so war Renate Künast bereits weit vor der Wahl freiwillig in die Juniorrolle geschlüpft. Rechtzeitig hatte sich die Grünen-Fraktionschefin im Bundestag von ihren Bürgermeister-Ambitionen verabschiedet und damit von der Hoffnung, stärker als die CDU zu werden und auf diesem Wege die SPD-Herrschaft zu brechen. Fragen nach dem einstigen Anspruch, Regierungschefin zu werden, bleiben Künast somit am Wahlabend weitgehend erspart. Dafür spricht Künast auffallend viel über das Thema der Bündnissuche. Es soll ja nicht vollends vergeblich gewesen sein, diesen Wahlkampf geführt zu haben. Künasts Absturz seit dem Herbst 2010, als sie mit einem Rückenwind von 30 Prozent in den Umfragen als nächste Regierende Bürgermeisterin gehandelt wurde, soll zumindest in einer Regierungsbeteiligung münden.
Sie wolle schon "mitsondieren", sagt Künast. Und überhaupt: Zehn Jahre rot-roter Stillstand seien jetzt abgewählt, und keine andere im Parlament schon vertretene Partei habe so viele Stimmen dazugewonnen. Und: "Berlin ist nicht Baden-Württemberg." Nur wirklich fröhlich sieht Künast bei all diesen Botschaften, die nach Sieg klingen sollen, nicht aus. "Also, ich gebe zu, wir wollten noch mehr", sagt sie dann auch einmal. Gewonnen und trotzdem verloren zu haben muss sich merkwürdig anfühlen. Künast sieht man diese Empfindung an.
Demnächst nimmt sie wieder ihren Chefsessel in der Grünen-Bundestagsfraktion ein. Einen weiteren Ausflug in die Landespolitik wird sie wohl nicht mehr unternehmen. "Liebe Renate, dumm gelaufen!", hatte Wowereit noch am Sonnabend über die 55-Jährige gespottet. Sein Misstrauen gegenüber Künasts Mannschaft kann er kaum verbergen, da helfen auch die Schnittmengen in den Wahlprogrammen wenig. Seine Prestigeprojekte, der neue Großflughafen in Schönefeld, der Autobahnausbau, die Tourismusförderung, könnten bei einer Regierung mit grüner Beteiligung zu Eskalationen führen.
Um 20 Uhr stehen sie erneut beisammen, diesmal bei der ARD. Für die "Tagesschau" hat Wowereit doch noch seine Party verlassen. In seiner Gegenwart sagt Künast, die Grünen würden sicher nicht der billige Ersatz für die Linke werden. Wowereit schmunzelt, CDU-Spitzenkandidat Frank Henkel auch, Linken-Wirtschaftssenator Harald Wolf aber ist genervt. Noch ist er im Amt, aber die Zeit des Mitredens ist schon am Wahlabend vorbei. Doch dann fängt er sich. "Wir haben in zehn Jahren gelernt zu regieren, aber wir haben in zehn Jahren nicht verlernt zu opponieren", sagt er. Auf ein offizielles Wort des Dankes von Wowereit für zehn Jahre gemeinsames Regieren wartet Wolf an diesem Abend vergeblich.