Vor allem junge Wähler verhelfen den Piraten zum Erfolg. Jetzt muss sich zeigen, ob die unerfahrene Partei nicht nur provozieren, sondern auch Politik machen kann
Berlin. Zehn Minuten nach der ersten Prognose steht Andreas Baum im Wahlstudio der ARD. Er trägt ein schwarzes T-Shirt. "Warum machen wir den Scheiß eigentlich?", steht dort in weißer Schrift. Darunter die Forderungen der Piratenpartei. Unten auf dem Bildschirm laufen die Wahlergebnisse in der Schleife. Eine 8,5 steht neben Baums Partei. Dahinter das Zeichen für Prozent. "Ich bin einfach baff", sagt Baum ins Mikrofon der Moderatorin. Über sein schmales Gesicht zieht ein schüchternes Lächeln.
Erstmals in ihrer sechs Jahre langen Geschichte zieht die Piratenpartei in ein deutsches Landesparlament ein. Baum erzählt, er habe sich vor der Wahl schon einmal das Berliner Abgeordnetenhaus von innen angeschaut und auf der Besuchertribüne gesessen. Von dort dürfe man übrigens nicht twittern, erzählt Baum. "Das können wir dann ja gleich mal ändern." Mit der Piratenpartei zieht eine neue politische Kraft in die Parlamente. Und eine neue Sprache.
Sie schlägt die Melodie der Provokation an. Sie ist Stimme des Protests gegen die etablierten Parteien. Nur zehn Prozent haben nach Angaben der Forschungsgruppe Wahlen die Piraten wegen ihrer Inhalte gewählt. Die Partei trägt noch den Charme des Neuen in ihrem Namen mit. Aber die Piraten sprechen auch die Sprache vieler - vor allem junger - Menschen in der Hauptstadt. Etwa 120 000 Stimmen hat die Partei bekommen. Bei den Erstwählern hat sie rund 14 Prozent eingefahren.
Andreas Baum ist das Gesicht dieser neuen Sprache. Der 33 Jahre alte Kundenberater in einer Internetfirma wurde in Kassel geboren, schloss dort eine Ausbildung zum Industrieelektroniker ab. Seit 2003 lebt er in Berlin. Und es gibt noch eine Information über sein Leben: Er hat keinen Fernseher zu Hause. Im Wahlkampf musste er reichlich Häme einstecken. Baum schätzte in einem Interview die Höhe der Schulden Berlins auf "viele, viele Millionen" Euro. Es sind 63 Milliarden. Andere Parteien werfen den Piraten vor, sie hätten ein zu dünnes Profil, kaum Inhalt und zu wenige Frauen. Susanne Graf, einst aktiv im Chaos Computer Club, ist die jüngste Kandidatin auf der Liste. Sie ist auch die einzige Frau.
So ist auch der Piratenwähler vor allem männlich, zwischen 25 und 35 Jahre alt, eher aus dem Ostteil Berlins, aber aus allen Bildungsschichten - so ließ sich das aus den Befragungsdaten von Infratest Dimap im Auftrag der "Berliner Morgenpost" in den vergangenen Monaten ablesen.
Andreas Baum führt jetzt eine Partei an, die vor allem für mehr Transparenz in der Politik sorgen und die Beteiligung der Bürger stärken will. Baum forderte, Verträge, die der Senat für alle Bürger schließt, öffentlich einsehbar zu machen. "Open government" nennen sie diese Politik, offenes Regieren. Vor allem durch das Internet. Die Piraten sind auch die Partei der "Digital Natives", junge, computeraffine Menschen, die sich in der digitalen Welt bewegen. Alle öffentlichen Gebäude sollen kostenlosen Zugang zum Netz bereitstellen, fordert die Partei. Eine Zensur von Webseiten dürfe es nicht geben. "Die Piraten bilden einen gesellschaftlichen Grundkonflikt ab, zwischen Freiheit und Sicherheit im Internet zu entscheiden", sagt Parteienforscher Karl-Rudolf Korte. Damit hätten sie gute Chancen, als "Problemlösungsagentur", wie Korte sagt, langfristig erfolgreich zu sein.
Doch die Piraten stehen auch für Forderungen, die irgendwo zwischen unerfahren, links und radikal stehen. Sie wollen ein bedingungsloses Grundeinkommen von 800 Euro genauso einführen wie Rauschgift-Unterricht an Schulen. Der öffentliche Nahverkehr solle über eine Abgabe für Touristen und Berliner finanziert werden - die einzelne Fahrt ist dann kostenlos.
Noch im August wurden die Piraten mit diesen Forderungen bei den Umfragen zur Wahl in Berlin unter "Sonstige" verbucht. 2013 wolle man in den Bundestag, sagte der Bundesvorsitzende der Piratenpartei, Sebastian Nerz, gestern.
Im Moment ist die Sprache der Piratenpartei auch die des Triumphs. Doch bei der Siegerparty im Kreuzberger Klub Ritter Butzke funktionierte ausgerechnet eines bei der Internetpartei nicht: das drahtlose Internet.