Nach dem Bundestagsbeschluss sehen sich alle Parteien als große Sieger. Doch nur wenige profitieren wirklich vom Ende der Atomkraft.
Berlin. Norbert Röttgen hatte erst wenige Sätze gesprochen, als Bundestagspräsident Norbert Lammert zum ersten Mal eingreifen musste. Zu laut waren die Zwischenrufe von der Opposition und zu durcheinander, als dass man sie hätte verstehen können. Lammert bat um Ruhe. Umweltminister Röttgen, der erste Redner in der gestrigen Debatte um den Atomausstieg, konnte fortfahren. "Es ist die Koalition, die diesen Prozess anführt", rief der CDU-Politiker - und erntete erneut Gelächter, vor allem von den Grünen. Und dann, etwas genervt: "Sie sollten sich in ihren Zwischenrufen nicht weniger intelligent benehmen als gleich in ihrem Abstimmungsverhalten."
Das stand im Wesentlichen schon vorher fest. Mit großer Beteiligung auch von SPD und Grünen wurde der Atomausstieg bis 2022 vom Bundestag abgesegnet. Trotzdem lieferten sich Koalition und Opposition zuvor ein letztes hitziges Gefecht um die Deutungshoheit: Wem gehört die Energiewende, wer darf sie als Erfolg verbuchen? Alle Parteien, bis auf die Linke, reklamieren dies für sich. Das Abendblatt erklärt, welche Partei tatsächlich profitieren wird. Und wer zu den Verlierern zählt.
Die Union steht vor der größten Herausforderung. CDU-Chefin und Bundeskanzlerin Angela Merkel war es, die erst im vergangenen Herbst die Laufzeitverlängerung der 17 deutschen Meiler verkündete, nach dem Unglück im japanischen Kraftwerk Fukushima dann aber zurückruderte. Dass sie ihre Meinung tatsächlich auf rationaler Grundlage änderte und nicht etwa aus wahltaktischem Kalkül, haben ihr viele Wähler nicht abgenommen. Bis heute ein wunder Punkt der Kanzlerin - und die Opposition wird nicht müde, das immer wieder zu betonen. "Opportunismus", lautete das Urteil von SPD-Chef Sigmar Gabriel gestern im Parlament.
Oppositions-Schelte kann Merkel schulterzuckend verschmerzen. Verlorene Glaubwürdigkeit bei den Wählern allerdings dürfte zum Problem werden, spätestens bei der Bundestagswahl 2013. Die Aufgabe für die nächsten Monate ist also klar: Die Union muss die Energiewende genau so durchziehen, wie jetzt vereinbart wurde, und jeden Eindruck vermeiden, in irgendeinem Punkt davon abzuweichen. Wenn sie sich an ihre eigenen Vorgaben hält, hat sie die Chance, neben den Grünen als Partei mit Kompetenz in Sachen Öko-Energien wahrgenommen zu werden.
Die SPD ist in einer undankbaren Situation. Gemeinsam mit den Grünen waren es die Sozialdemokraten, die 2001 zum ersten Mal einen Atomausstieg unter Dach und Fach brachten. Allerdings gelten bis heute nicht sie, sondern die Öko-Partei als die eigentlichen Experten auf dem Feld der alternativen Energien. Auch in den vergangenen Monaten traten die Genossen kaum als kompetente und handelnde Opposition in Erscheinung. Der Rettungsversuch von SPD-Chef Gabriel, man habe Jahrzehnte für den Atomausstieg gekämpft, half da nicht viel. "30 Jahre Häme, 30 Jahre Beleidigung, die wir von Ihnen ertragen mussten - das ist ein großer Tag für uns", sagte er in Richtung Schwarz-Gelb. Nein, als großer Tag für die Sozialdemokratie wird der 30. Juni 2011 nicht in die Geschichte eingehen. Um mit den Umfragewerten wieder Platz zwei zu belegen, sollte sich die SPD andere Themen suchen, mit denen sie punkten kann. Auch wenn es den Genossen unfair vorkommen mag: Das Thema Atomausstieg haben sie verloren.
Die Grünen haben einen Sieg errungen. Schließlich haben fast alle eingesehen, was die Öko-Partei schon immer gewusst hat. In 30 Jahren sind sie von den Schmuddelkindern von Links außen zur drittstärksten Kraft in den Umfragen geworden und haben eines der größten Projekte in der Geschichte der Bundesrepublik massiv vorangetrieben. "Ich bin heute stolz, auch ein bisschen gerührt, was eine Bewegung, die diskriminiert, auch kriminalisiert wurde, alles geschafft hat", sagte Fraktionschefin Renate Künast. Mit ihrem Ja zum schwarz-gelben Ausstieg haben die Grünen der "Dagegen-Partei"-Rhetorik von Union und FDP zudem einigen Wind aus den Segeln genommen.
Wer vermutet, mit der Energiewende habe die Partei ihre Daseinsberechtigung verloren, irrt. Die begleitenden Gesetze lehnen die Grünen ab und haben diverse Vorschläge, wie man es anders machen könnte. Im Herbst wird zudem der nächste Castor-Transport durch das Wendland rollen. Die Partei hat also noch genug Gelegenheit, sich mit ihrem Kernthema zu profilieren. Langfristig muss sie jedoch weitere Schwerpunkte ausbilden.
Die FDP stemmt sich mit aller Macht dagegen, als Verliererin dazustehen. Bei Laufzeitverlängerungen galt sie noch als treibende Kraft, bei der schwarz-gelben Kehrtwende wirkte sie zuletzt eher wie eine schweigende Kraft. Sie brauchte lange, um den Schock zu verdauen, nachdem der damalige Wirtschaftsminister Rainer Brüderle im März das Atom-Moratorium gegenüber führenden Industriemanagern mit den anstehenden Landtagswahlen begründet hatte. Kaum hatte sie sich erholt, warnte Generalsekretär Christian Lindner vor Klagen der Atomkonzerne und nahm dafür die Kanzlerin und CSU-Chef Horst Seehofer in Haftung.
Dem Eindruck, mit der Energiewende am liebsten gar nichts zu tun zu haben, musste FDP-Chef Philipp Rösler gestern entgegenwirken. Er konzentrierte sich vor allem darauf, die Opposition in die Verantwortung zu nehmen - zum Beispiel beim Bau neuer konventioneller Kraftwerke. "Ich bin sehr gespannt, ob die Grünen den Mut haben, hier an unserer Seite zu stehen", sagte er. Nur wenig deutet darauf hin, dass die taumelnde FDP vom Ausstieg profitieren kann. Sie muss sich - mal wieder - ein anderes Aufbruchprojekt suchen.
Dass die Linkspartei überhaupt an der Parlamentsdebatte teilnahm, konnte schon überraschen. Während ihre Selbstbeschäftigung - vom Streit übers Programm, über die Antisemitismusvorwürfe bis hin zu gegenseitigen Diffamierungen - längst zerstörerische Ausmaße annimmt, steht die Linke bei der Energiewende isoliert da. Auch gestern änderte sich daran nichts. Fraktionschef Gregor Gysi forderte Altbekanntes: den Ausstieg im Grundgesetz, Zerschlagung der Stromkonzerne, Energieversorgung in den Händen der Kommunen. Der Energiewende zustimmen wollte die Partei nicht. Ganz gleich, wie der Ausstieg verläuft - die Stimme der Linken wird kaum von Relevanz sein.