Morgen vor 20 Jahren machten 70.000 Demonstranten in Leipzig Honeckers SED-Regime endgültig klar, dass seine Zeit abgelaufen war.
Es gibt keinen anderen Tag in meinem Leben, der sich so ins Gedächtnis eingebrannt hat wie der 9. Oktober 1989.
Am Morgen, beim Frühstück mit meiner Frau, sprechen wir kaum und verabschieden uns dann mit dem unguten Gefühl, nicht zu wissen, unter welchen Bedingungen wir uns wieder sehen werden. Wir wissen nicht, wie dieser Montag, an dem nach den Friedensgebeten in sechs Kirchen die bisher größte Demonstration seit dem 17. Juni 1953 stattfinden soll, für Leipzig und für uns persönlich enden wird. Als ich wenig später unseren knapp dreijährigen Sohn Jonas mit dem Fahrrad in die Kinderkrippe bringe, registriert er begeistert die vielen Polizeifahrzeuge, die schon Richtung Innenstadt unterwegs sind. Mit meiner Frau habe ich vereinbart, dass sie Jonas nach der Arbeit abholen und mit ihm zu Hause bleiben wird. Zumindest dieser Gedanke beruhigt mich.
Über der Stadt liegt eine unheilvolle Spannung. Zwei Tage zuvor, am 40. Jahrestag der DDR, sind die "bewaffneten Organe" in Leipzig brutal gegen jene vorgegangen, die friedlich für die Zulassung des "Neuen Forums" und den Beginn von Reformen demonstriert haben. Wie schon in der vorangegangenen Woche hat die Stasi wieder viele Demonstranten verhaftet. Niemand weiß in diesen Tagen, was aus ihnen geworden ist.
Gegen 14 Uhr fahre ich schließlich von unserer Wohnung in der Südvorstadt mit der Linie 16 ins Zentrum. Die Straßenbahn, zu dieser Tageszeit normalerweise halb leer, ist voller Menschen, aber niemand spricht ein Wort. Als wir in die Haltestelle Wilhelm-Leuschner-Platz einfahren, rollen Schützenpanzerwagen über den Innenstadtring. "Heute Abend wird es Tote geben", sagt ein alter Mann in die Stille. Jeder hat Angst. Aus allen Richtungen strömen Menschen in die Innenstadt.
Die Nikolakirche ist schon jetzt überfüllt, obwohl das Friedensgebet erst in zwei Stunden beginnen wird. "Das sind nicht nur unsere Leute, da sitzen auch ungefähr 600 Genossen drin, schon seit heute Mittag", erfahre ich im Kirchenbüro. Welchen Auftrag haben diese Leute? Niemand weiß es, aber es bleibt auch kaum Zeit, darüber nachzudenken. Wie vor jedem Montagsgebet gibt es eine kurze Vorbesprechung mit der Basisgruppe, die das Montagsgebet gestaltet, an der auch Superintendent Friedrich Magirius, Christian Führer, der Pfarrer der Nikolakirche, und ich als freier Mitarbeiter der sächsischen Kirchenzeitung "Der Sonntag" teilnehmen. Allen ist klar, dass an diesem Montag eine Entscheidung fallen wird. Die Jubelfeiern zum 40. Jahrestag sind vorbei, der sowjetische Parteichef Michail Gorbatschow, der als Staatsgast daran teilgenommen hat, ist wieder abgereist. Viele Demonstranten rufen zwar "Gorbi hilf uns", wissen aber, dass sie vom Hoffnungsträger des Ostblocks an diesem Abend nichts erwarten können.
Jetzt wird die DDR-Führung Ernst machen. Was sie darunter versteht, stand drei Tage zuvor in der "Leipziger Volkszeitung". In einem Leserbrief versprach Günter Lutz, der Kommandant einer paramilitärischen Arbeitermiliz, dass man "diese konterrevolutionären Aktionen endgültig und wirksam" unterbinden werde. "Wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand."
Das ist ein Schlag ins Gesicht, die unverhohlene Drohung mit der "Pekinger Lösung". So wie die Pekinger KP-Führung am 4. Juli 1989 die chinesische Demokratiebewegung niedergeschossen hat, so kann es auch an diesem Abend in Leipzig geschehen. Trotzdem lassen sich die Menschen nicht abschrecken. Und es sind nicht nur Leipziger, auch aus dem Umland und sogar aus anderen ostdeutschen Großstädten reisen die Demonstranten an. Sie sind ernst, diszipliniert und in gespannter Erwartung. Sie alle wissen: Heute wird sich entscheiden, ob die Freiheit eine Chance bekommt oder ob sie mit Gewalt im Keim erstickt wird.
Dicht an dicht stehen die Menschen auf dem Nikolaikirchhof und den angrenzenden Straßen. Die Nikolaikirche und fünf weitere Kirchen in der Innenstadt sind schon lange vor 17 Uhr total überfüllt. Die SED-Genossen, die in die Nikolaikirche befohlen wurden, verhalten sich still. Einige von ihnen werden später sagen, dass sie die Atmosphäre in der Kirche tief berührt hat. Pfarrer Gottfried Weidel und die Mitglieder der Friedensgruppe aus dem Stadtteil Gohlis, die dieses Friedensgebet gemeinsam gestalten, sprechen die Seligpreisungen aus der Bergpredigt. "Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen", sagt eine junge Frau mit fester Stimme, während sich in der Menge vor der Kirche lautes Geschrei erhebt. Niemand in dem völlig überfüllten Raum weiß, was in diesem Moment auf den Straßen geschieht. Gleich zu Beginn verliest Peter Zimmermann, ein Leipziger Universitätstheologe, einen Aufruf zur Gewaltlosigkeit, den außer ihm und dem damals schon weltberühmten Dirigenten und Gewandhauskapellmeister Kurt Masur sowie dem beliebten Kabarettisten Bernd-Lutz Lange erstaunlicherweise auch drei Sekretäre der SED-Bezirksleitung unterzeichnet haben:
"Unsere gemeinsame Sorge und Verantwortung haben uns heute zusammengeführt. Wir sind von der Entwicklung in unserem Land betroffen und suchen nach einer Lösung. Wir alle brauchen einen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land. Deshalb versprechen die Genannten heute allen Bürgern, ihre ganze Kraft und Autorität dafür einzusetzen, dass dieser Dialog nicht nur im Bezirk Leipzig, sondern auch mit der Regierung geführt wird."
Hatten wir richtig gehört? Hatten drei hohe SED-Funktionäre das tatsächlich unterschrieben? Welche Sprengkraft dieser schlichte Text trotz seiner beschwichtigenden Formulierungen tatsächlich besitzt, kann man nur ermessen, wenn man sich die hochdramatische Situation dieses Tages vor Augen führt. Obwohl es um "die Weiterführung des Sozialismus" geht und ein Dialog mit der Regierung höflich erbeten wird, muss dieser Text Honecker und dem Politbüro als Verrat erscheinen, auch oder gerade weil ihn drei mächtige SED-Funktionäre mittragen. Noch am Tag zuvor wäre für die SED ein friedlicher Dialog mit Andersdenkenden völlig unvorstellbar gewesen. Allen in der Kirche ist klar, dass sich dieser Appell zur Besonnenheit weniger an die ohnehin friedlichen Demonstranten richtet, sondern an die "bewaffneten Organe", die überall in der Stadt in Stellung gegangen sind. Und diese können ihre Ohren nicht verschließen, denn der Text, den Masur Stunden vorher im Studio des Senders Leipzig auf Band gesprochen hat, ist gleich mehrfach aus den Lautsprechersäulen des Leipziger Stadtfunks zu hören.
Nach dem Ende des Friedensgebets muss uns der Küster den Weg durch die Menge bahnen, damit wir das Pfarrhaus auf der anderen Seite des Nikolaikirchhofs erreichen können. Monate später werden wir erfahren, dass dieser Küster Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi war. Kurz darauf stehe ich neben Uwe Schwabe und Frank Sellentin, die zu den wichtigsten Bürgerrechts-Aktivisten in Leipzig gehören, an einem Fenster in der Privatwohnung von Superintendent Magirius. Am Nebenfenster beobachten Magirius, der sächsisches Landesbischof Johannes Hempel und Matthias Berger, ein einflussreicher Leipziger Pfarrer, das Geschehen. Die Menschen drängen sich auf dem Nikolaikirchhof und den angrenzenden Straßen, eigentlich in der ganzen Innenstadt - ein unglaublicher Anblick. Sie halten brennende Kerzen in den Händen, singen "We shall overcome", "Dona nobis pacem" und die erste Strophe der "Internationale". Warum ausgerechnet die "Internationale"? Weil es da heißt: "Die Internationale erkämpft das Menschenrecht."
Wir stehen da, schweigen und spüren, dass dies ein historischer Abend, eine historische Nacht werden wird, wie immer es auch ausgehen mag. Werden die jungen Wehrpflichtigen, die am Hauptbahnhof auf ihren Einsatzwagen warten, heute schießen? Werden die Bereitschaftspolizisten mit Schlagstöcken auf die Menge losprügeln? Werden sie ihre Hunde auf die Menschen hetzen? Werden die Angehörigen des Stasi-Wachregiments, die in voller Bewaffnung in der "Runden Ecke", der Bezirksdirektion des Ministeriums für Staatssicherheit, warten, die erste Reihe der Demonstranten unter Feuer nehmen? Das alles ist möglich, es ist sogar wahrscheinlich.
Gegen 19.30 Uhr setzt sich der Demonstrationszug in Bewegung. Ich denke, ich höre nicht richtig, denn Pfarrer Berger scheint nicht auf einen friedlichen Ausgang zu hoffen. Er sagt: "Jetzt laufen sie in ihr Verderben." Sehr viel später werden wir erfahren, dass er als IM "Carl" zu den wichtigsten Informanten der Stasi gehört hat.
Wer kann heute ermessen, wie viel Verzweiflung, wie viel Entschlossenheit, vor allem aber wie viel Mut notwendig sind, um mit nichts als einer brennenden Kerze in der Hand die schützenden Mauern der Kirchen zu verlassen und sich einer Diktatur entgegenzustellen?
Gegen 19.30 Uhr nimmt Magirius einen Anruf vom Pfarrer der Thomaskirche entgegen, wo die Spitze des Demonstrationszugs inzwischen angelangt ist. Sie sind also am Hauptbahnhof und an der Stasi-Zentrale vorbeigekommen. Und es ist nicht geschossen worden. 70 000 friedliche Demonstranten laufen über den Ring und rufen zum ersten Mal gemeinsam den Slogan, vor dem selbst die hochgerüstete Staatsmacht nur noch kapitulieren kann: "Wir sind das Volk!"
Zu dieser Zeit ist der Nikolaikirchhof noch immer voller Menschen, obwohl die Spitze des Demonstrationszugs schon wieder den Ausgangspunkt, den damaligen Karl-Marx-Platz, erreicht und damit den Innenstadtring einmal komplett umrundet hat. Es ist nicht leicht, sich einen Weg durch die Menschenmenge zu bahnen. Ich komme bis zur Goethe-Straße, wo eine Wagenkolonne der Arbeiter-Kampfgruppen parkt. Die Uniformierten stehen neben den Lastwagen und reden mit den Demonstranten. "Ich hätte doch gar nicht auf euch schießen können", sagt ein Kommandant, der dann unter Tränen hinzufügt: "Meine Tochter ist doch auch dabei."
An diesem Tag in Leipzig haben die Friedfertigen die Mächtigen besiegt. Die Menschen, die eben noch voller Angst beisammengestanden hatten, sind von einer unendlich schweren Last befreit, viele nehmen sich spontan in die Arme, und eigentlich hätte man tanzen sollen. In den letzten zwei Stunden hat sich Geschichte ereignet, jetzt wird es die alte DDR nicht mehr geben. Dieses Gefühl der Befreiung werde ich nie vergessen. Es hat sich in das Gedächtnis gebrannt, und wenn ich mich an den 9. Oktober 1989 erinnere, empfinde ich es immer wieder als großes Glück, dabei gewesen zu sein.