Leipzig: Vor laufenden Westkameras wird erstmals für mehr Freiheit demonstriert
Hamburg. Leipzig heute vor 20 Jahren: Schon seit etwa 3 Uhr nachmittags strömen Menschen in die Nikolaikirche, wo zwei Stunden später das erste Friedensgebet nach achtwöchiger Sommerpause beginnen soll. Manche von denen, die im Juni noch dabei waren, sind längst über Ungarn in die Bundesrepublik geflohen. Aber inzwischen haben sich noch viel mehr Menschen entschlossen, die DDR für immer zu verlassen. Wenn die SED-Funktionäre gehofft hatten, im Sommer würde sich die innenpolitische Lage beruhigen, haben sie sich gründlich getäuscht. Viele Inoffizielle Mitarbeiter (IM) berichten ihren Führungsoffizieren, dass in Betriebskollektiven inzwischen ganz offen über die Missstände der DDR und über Ausreisewünsche gesprochen wird.
Für die Ausreisewilligen ist die altehrwürdige Nikolaikirche im Zentrum von Leipzig der wichtigste Treffpunkt, hier können sie über ihre Erfahrungen berichten, auf ihr Anliegen hinweisen und demonstrieren. Aber es gibt auch viele Kirchenbesucher, die nicht ausreisen, sondern die DDR verändern und lebenswerter machen wollen. Zu ihnen zählen die Basisgruppen, die die Friedensgebete in St. Nikolai gestalten. Superintendent Friedrich Magirius wird schon seit Langem von DDR-Behörden gedrängt, die Friedensgebete zu beenden, da es sich in Wahrheit um staatsfeindliche Veranstaltungen handeln würde. Das bestreitet er, besteht aber gegenüber den Basisgruppen darauf, christliche Inhalte in den Vordergrund zu stellen. In diesem Konflikt agiert Magirius nicht immer glücklich. Nachdem er 1988 den Gruppen die Verantwortung für die Gestaltung der Montagsgebete zeitweise entzogen hat, gibt es auch Proteste gegen ihn. Glaubwürdiger erscheint vielen Montagsdemonstranten Nikolaikirchenpfarrer Christian Führer, obwohl auch er auf christlichen Inhalten besteht. Doch für Führer gehört zum christlichen Engagement ganz besonders, sich für eine lebenswertere und bessere Gesellschaft einzusetzen.
Manfred Hummitzsch, der Leiter der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit, sieht in der Nikolaikirche eine "Schaltzentrale der Konterrevolution". Am 31. August ist er zum Rapport nach Berlin gefahren, wo er Stasi-Chef Erich Mielke zu beruhigen versucht: "Die Lage ist so, Genosse Minister, nachdem jetzt acht Wochen Pause war, findet jetzt zur Messe am 4. September 17 Uhr das erste Mal wieder dieses operativ relevante 'Friedensgebet' statt. Die Lage wird kompliziert sein, aber ich denke, wir beherrschen sie."
Das ist pures Wunschdenken, denn an diesem 4. September sind dem Geheimdienst die Hände gebunden. Am Tag zuvor ist die Leipziger Herbstmesse eröffnet worden. In Messezeiten gibt sich die DDR in Leipzig weltoffen und international: Tausende Besucher aus dem Westen halten sich in der Stadt auf, darunter zahlreiche Fernsehteams. Während man ARD und ZDF zu normalen Zeiten Drehgenehmigungen und den Zugang nach Leipzig verweigern kann, geht das während der Messe nicht.
Und natürlich weiß man das in der Protestszene. Noch bevor das Friedensgebet 17 Uhr beginnt, ist die Kirche so voll, dass erstmals die Emporen geöffnet werden müssen. Superintendent Magirius erinnert an den Überfall Deutschlands auf Polen, mit dem 50 Jahre zuvor der Zweite Weltkrieg begann, geht dann aber bald auf die aktuelle Situation ein. In einem Gebet wird das so formuliert: "Wir bitten dich, dass die Probleme, unter denen in unserem Land sehr viele leiden, offen besprochen werden, dass diejenigen, die Verantwortung tragen, sich nichts vormachen oder vormachen lassen, damit die Menschen in unserem Land gern leben und arbeiten."
Nach dem Ende der Andacht verlassen die Menschen die Kirche und versammeln sich anschließend auf dem Nikolaikirchhof, auf dem bereits mehrere westliche Kamerateams drehen. Das ist die Bühne, auf die die Demonstranten gewartet haben. Die einen rufen: "Wir bleiben hier", die anderen: "Wir wollen raus" - für die SED-Funktionäre klingt beides bedrohlich. Dann entrollen Uwe Schwabe, Gesine Oltmanns und Katrin Hattenhauer von der "Initiativgruppe Leben" ein heimlich mitgebrachtes Plakat mit der Aufschrift "Für ein offenes Land mit freien Menschen". Es gibt viel Beifall, ein paar Sekunden lang können die jungen Leute das Plakat vor die laufenden Westkameras halten. Dann entlarvt sich die Stasi selbst: Auf ein Pfeifsignal stürzen fünf oder sechs Spitzel, stämmige junge Männer mit brutalen Gesichtern, auf die Demonstranten zu und entreißen ihnen das Plakat. Es kommt zu einem kurzen Handgemenge, dazu schreien die Ausreisewilligen und Systemveränderer gemeinsam im Chor "Stasi raus". Zwei Stunden später sind diese Bilder der Aufmacher in der "Tagesschau".
Für die SED ist dieser 4. September eine innenpolitische Niederlage und zugleich eine außenpolitische Blamage. Mielke ist wütend, die Leipziger Stasi-Führung wird abgekanzelt. Solche Bilder darf es nie wieder geben, Protestaktionen müssen künftig im Keim erstickt werden. Die Stasi wird auf Härte eingeschworen, und den Mitgliedern der Leipziger Basisgruppen schwant nichts Gutes. Sie wissen, dass am nächsten Montag keine Westkameras mehr in Leipzig sein werden. Doch auch nach dem Friedensgebet vom 11. September versammeln sich wieder mindestens 1000 Menschen auf dem Nikolaikirchhof. Diesmal ist die Kirche von einem großen Aufgebot an Polizei und Stasi umstellt. Geheimdienstleute filmen und fotografieren die Demonstranten, die diesmal einfach still beieinanderstehen. Per Megafon fordern Polizisten die Menschen auf, den Platz sofort zu verlassen. Dann schlagen Bereitschaftspolizisten brutal auf die Menschen ein. Stasi-Leute in Zivil greifen gezielt einige Demonstranten, werfen sie zu Boden, ziehen sie an den Haaren zu den bereitstehenden Lastwagen. An diesem Tag gibt es mehr als 100 Verhaftungen.
Stasi-Chef Hummitzsch ist zufrieden, aber er hat einen Pyrrhussieg errungen. Das Vorgehen der "Sicherheitsorgane" löst Empörung aus. Die Leute lassen sich nicht mehr einschüchtern, am 18. September werden noch mehr Menschen kommen. Die Zeit der SED läuft ab, auch wenn es die Genossen noch nicht wahrhaben wollen: In Leipzig hat die Revolution längst begonnen.