Am 4. November 1989 demonstriert Ost-Berlin
Hamburg. Es sind die merkwürdigsten Bilder der friedlichen Revolution vom Herbst 1989 in der DDR. Ost-Berlin, Alexanderplatz, 4. November 1989. Da stehen mutige Bürgerrechtler neben einem ehemaligen Geheimdienstchef und einem Politbüro-Mitglied auf einer improvisierten Bühne und sprechen zu mehr als 500 000 Menschen auf einer Protestdemo, die die DDR-Behörden offiziell genehmigt haben und die sogar live vom staatsfrommen DDR-Fernsehen übertragen wird.
Nie zuvor sind in Berlin auch nur annähernd so viele Menschen auf die Straße gegangen wie nun schon seit Wochen in Leipzig, Dresden oder selbst in der sächsischen Kleinstadt Plauen. Doch nun, nachdem die SED längst in die Defensive geraten, Honecker gestürzt ist und der neue SED-Chef Krenz eine halbherzige "Wende" ausgerufen hat, wird der Berliner Alexanderplatz zur Bühne der größten Demonstration in der Geschichte der DDR.
Aber sowohl die insgesamt 26 Redner als auch die halbe Million Demo-Teilnehmer verfolgen sehr unterschiedliche Ziele. Initiiert hat das Neue Forum, die offiziell noch immer nicht zugelassene Oppositionsbewegung, die Veranstaltung, die schließlich von Berliner Künstlerverbänden organisiert wird. Die Volkspolizei, die bis zum 7. Oktober alle Demos in Berlin brutal niedergeknüppelt hat, ist weit und breit nicht zu sehen. Dafür hat eine "Sicherheitspartnerschaft" gesorgt; die Veranstalter setzen eigene Ordner ein, die leicht an ihren grün-gelben Schärpen mit der Aufschrift "Keine Gewalt" zu erkennen sind.
Die Bürgerrechtler Jens Reich vom Neuen Forum, der Pfarrer Friedrich Schorlemmer vom Demokratischen Aufbruch und Marianne Birthler von der Initiative Frieden und Menschenrechte fordern ein Ende der SED-Herrschaft und eine Demokratisierung der DDR. Zu den bizarren Auftritten dieses Tages gehört die Rede des ehemaligen Chefs der Stasi-Auslandsspionage, Markus Wolf. "Trotz mahnender Stimmen in unseren eigenen Reihen konnten wir nicht verhindern, dass unsere Führung bis zum 7. Oktober in einer Scheinwelt lebte und selbst dann noch versagte, als die Mensche anfingen, mit den Füßen abzustimmen", sagte der Ex-Stasi-General, der zur Gruppe jener ehemaliger DDR-Funktionäre gehört, für die der Volksmund in diesen Tagen den Begriff Wendehals prägt.
Auch Manfred Gerlach, Chef der Blockpartei LDPD, gibt den nachträglichen Revolutionär, indem er nun den Rücktritt der Regierung fordert, die er jahrzehntelang mitgetragen hat.
Doch während die Massen Gerlach noch zujubeln, hat ein anderer von Anfang an einen schweren Stand: Die Rede, die das Politbüro-Mitglied Günter Schabowski zu halten versucht, geht von Anfang an in einem gellenden Pfeifkonzert unter. Aufschlussreicher als die Ansichten mancher Redner sind die Plakate, die die Menschen mitgebracht haben. Da gibt es knallharte, aber auch witzige Sprüche, die gnadenlos mit dem SED-Regime, seinen Repressionen und seinen Protagonisten abrechnen.
Dass die Stasi an diesem 4. November durchaus noch im Dienst ist, belegt eine Akte aus der Birthler-Behörde, in der die Geheimdienstler fein säuberlich alle "gegen die Schutz- und Sicherheitsorgane und gegen das Strafrecht gerichteten Angriffe und Forderungen auf der genehmigten Demonstration" vom 4. November 1989 aufgelistet haben. Zitiert wird zum Beispiel: "Rechtssicherheit statt Staatssicherheit" und "Für ein Leben ohne Stasi-Terror".
Die Schauspieler Ulrich Mühe und Jan Josef Liefers betreten die Bühne und fordern grundlegende Reformen und Freiheiten ebenso wie der Nestor der DDR-Literatur, Stefan Heym.
Zu den Rednern gehört auch die hoch angesehene Schriftstellerin Christa Wolf, Autorin von in den 60er-Jahren durchaus regimekritischen Romanen wie "Der geteilte Himmel". Sie tritt für eine Demokratisierung der DDR ein, plädiert aber zugleich für einen demokratischen Sozialismus. Christa Wolf bekommt höflichen Applaus, obwohl sie sich schon weit von den Wünschen der meisten DDR-Bürger entfernt hat, die längst nicht mehr an ein sozialistisches Experiment glauben. "Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg", sagte die Schriftstellerin, was wirklichkeitsfremd ist angesichts von Hunderttausenden DDR-Bürgern, die mit den Füßen gegen den Sozialismus abstimmen.
Als fünf Tage später die Mauer fällt, wird auch den meisten linken DDR-Intellektuellen klar, dass der Traum vom Sozialismus ausgeträumt ist.