Wie das Blutbad in China die Situation in der DDR beeinflusste. Teil zwei der Serie von Matthias Gretzschel im Jubiläumsjahr des Mauerfalls.
Hamburg. Heute vor 20 Jahren: Einheiten der chinesische Polizei und Volksbefreiungsarmee schlagen die Protestbewegung der Studenten auf dem Platz des Himmlischen Friedens und in zahlreichen weiteren Städten Chinas brutal nieder. Fassungslos sieht die Weltöffentlichkeit zu, wie die chinesischen Kommunisten Panzer gegen friedliche Demonstranten einsetzen. Die Demokratiebewegung wird im Blut ertränkt, anschließend herrscht Friedhofsruhe.
Viele DDR-Bürger, die den monatelangen Protest der Studenten mit Sympathie und dessen Niederschlagung im Westfernsehen mit Entsetzen verfolgt haben, sind tags darauf fassungslos, als sie die gleichgeschalteten DDR-Tageszeitungen in den Händen halten: "Volksbefreiungsarmee Chinas schlug konterrevolutionären Aufruhr nieder" titelt das SED-Zentralorgan "Neues Deutschland", und auch die übrigen Zeitungen begrüßen das Massaker überschwänglich.
Die "Junge Welt", die Zeitung des Jugendverbandes FDJ, druckt auf einer ganzen Seite das Foto einer verkohlten Leiche. Überschrift: "So wütete in Peking die Konterrevolution!" SED-Politiker wie Egon Krenz und Hans Modrow reisen in den kommenden Wochen nach China und versichern den dortigen Machthabern ihre uneingeschränkte Solidarität.
Dass sich auch die Blockparteien keine abweichende Meinung leisten, zeigt die Volkskammersitzung vom 8. Juni, auf der das DDR-Parlament wie gewohnt einstimmig einer von der SED eingebrachten China-Erklärung zustimmt. Wörtlich heißt es: "Die Abgeordneten der Volkskammer stellen fest, dass in der gegenwärtigen Lage die von der Partei- und Staatsführung der Volksrepublik China beharrlich angestrebte politische Lösung innerer Probleme infolge der gewaltsamen, blutigen Ausschreitungen verfassungsfeindlicher Elemente verhindert worden ist. Infolgedessen sah sich die Volksmacht gezwungen, Ordnung und Sicherheit unter Einsatz bewaffneter Kräfte wiederherzustellen."
Die Ereignisse im 11 000 Kilometer entfernten Peking haben für die Ost-Berliner Führung im Frühsommer 1989 nicht nur außenpolitische Bedeutung. Und das sehen die DDR-Bürger ganz genauso. Wenn die SED-Führung die blutige Niederschlagung der Demokratiebewegung feiert, so ist das auch ein deutliches Warnsignal an die eigene, immer aufmüpfiger werdende Bevölkerung.
Trotzdem gibt es in vielen Teilen der DDR Proteste gegen das Vorgehen der chinesischen Behörden. Am 5. und 6. Juni demonstriert eine kleine Gruppe von Oppositionellen mit Kerzen vor Pekings Ost-Berliner Botschaft und wird natürlich sofort festgenommen. In einer Schule in Brandenburg tauchen Protestlosungen auf, die hastig wieder entfernt werden. In zahlreichen evangelischen Kirchen finden am 6. Juni Fürbittgottesdienste für die Opfer des Aufstands statt, u. a. auch in der Hoffnungskirche im Ost-Berliner Stadtteil Pankow. Dort tritt der damals 26 Jahre alte Mario Schatta, ein Sozialdiakon der evangelischen Kirche, vors Mikrofon und spricht aus, was viele in diesen Tagen befürchten, nämlich dass sich die SED im Krisenfall nicht anders verhalten könnte als ihre chinesischen Genossen.
Bereits am 5. Juni hatte die Berliner "Initiative für Frieden und Menschenrechte", eine der aktivsten ostdeutschen Oppositionsgruppen, erklärt, "dass die Kommentierung der Ereignisse in den DDR-Medien den Schluss zulässt, dass auch die DDR-Führung im Falle von Demonstrationen mit Waffengewalt vorgehen könnte".
Jeder Demonstrant weiß nun, womit er im Extremfall rechnen muss. Aber die Protestaktionen reißen trotzdem nicht ab. Mehr als 20 Oppositionsgruppen aus der ganzen DDR protestieren gegen die Volkskammer-Erklärung. In der Berliner Erlöserkirche und der Dresdner Kreuzkirche wird mit Trommeln gegen das Blutbad in China demonstriert.
Am 9. Juli bildet sich auf der Abschlussveranstaltung des Leipziger Kirchentags eine von Uwe Schwabe, Rainer Müller und anderen Oppositionellen organisierte China-Demo. Eine Polizeikette und Stasi-Einheiten verhindert, dass die etwa 40 Menschen, die ein großes Plakat mit den chinesischen Schriftzeichen für Demokratie mit sich tragen, in die Leipziger Innenstadt gelangen. Noch hat die SED die Kontrolle über die Straßen, noch bleiben die Proteste meist auf kirchliche Räume beschränkt, doch in einigen Wochen wird sich auch das ändern - trotz der Gefahr einer "chinesischen Lösung".