SPD-Chef Gabriel über einen neuen Wahlkampfstil, den Erfolg von Olaf Scholz in Hamburg und seinen Frust über die deutsche Energiepolitik.
Hamburg. Der frühere Bundesumweltminister sieht die Bundesregierung in der Eurokrise auf dem falschen Weg. Beim Besuch in der Abendblatt-Redaktion erklärte Sigmar Gabriel , warum der Kontinent einen neuen Marshall-Plan braucht.
Hamburger Abendblatt: Herr Gabriel, die Eurokrise spitzt sich wieder zu. Welche Maßnahmen können jetzt noch helfen?
Sigmar Gabriel: Die SPD sagt seit langen: Ausschließlich auf Sparen zu setzen, reicht nicht. Wir brauchen vor allem Investitionen in Wachstum und Beschäftigung in Europa – finanziert durch die Transaktionssteuer. Und eine strikte Regulierung der Finanzmärkte.
Ist Sparen das falsche Gebot?
Gabriel: Es kommt darauf an, wo gespart wird. Vor allem bei den konjunkturunabhängigen Ausgaben ist es richtig. Zur Zeit aber werden blind die Haushalte zusammen gestrichen, was nur dazu führt, dass die Konjunktur weiter abgewürgt wird. Im Ergebnis wachsen die Schulden statt zu sinken. Was wir jetzt brauchen, ist ein zweiter europäischer Marshall-Plan. Den können wir aber nicht über Schulden bezahlen. Deshalb brauchen wir die Finanztransaktionssteuer. Jeder Bäcker muss Mehrwertsteuer für seine Brötchen verlangen, aber Finanzmärkte sind steuerfrei, obwohl der Großteil der Schulden durch genau diese Finanzmärkte entstanden ist. Dieser Irrsinn muss ein Ende haben.
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Würde Deutschland die Hauptlast so eines Marshall-Plans tragen?
Gabriel: Nein. Wenn wir die Transaktionssteuer einführen, bitten wir endlich die zur Kasse, die zu einem erheblichen Teil Schuld an der Krise haben: Die Zocker in den Banken und an den Börsen. Die Merkel-Koalition muss sich endlich klar zu der Steuer bekennen, das ist auch ein Gebot der Gerechtigkeit. Es ist ja bezeichnend, dass Sarkozy sie jetzt in Frankreich im Alleingang durchsetzen will. Wenn Merkel und Sarkozy die Steuer wollen, dann wird die Eurogruppe ihnen folgen. Wenn wir nicht schleunigst die dramatisch zusammenbrechende Wirtschaft in Südeuropa stabilisieren, hilft kein noch so großer Rettungsschirm.
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Wie kann Griechenland überhaupt noch gerettet werden?
Gabriel: Griechenland braucht Wachstum. Ein Beispiel: Wir haben in Deutschland allein mit erneuerbaren Energien 350000 Jobs geschaffen. Die deutsche Industrie plant große Solaranlagen in Nordafrika. Wir könnten doch erst mal in Griechenland, Spanien, Portugal anfangen und dort Sonnenstrom für ganz Europa erzeugen. Es ist schlauer, dort in die Sonnenenergie zu investieren, wo die Sonne auch wirklich scheint.
Gilt das auch in Deutschland?
Gabriel: Die Bundesregierung handelt bei der Energiewende planlos. Schleswig-Holstein plant einen gigantischen Ausbau der Windenergie, aber es fehlen die Stromleitungen, um die Energie dahin zu leiten, wo sie gebraucht wird. Die Energiewende wurde vollmundig beschlossen, aber wir haben keine Speicher, keine Netze, keinen planvollen Ausbau der erneuerbaren Energien, keine Investitionen in die Energieeinsparung und keine neuen Gaskraftwerke.
Ist die Bundesregierung eine Gefahr für den Industriestandort?
Gabriel: Ja. Ich war gerade in Hamburg bei Aurubis. Selbst kleine Schwankungen im Netz können bei der Kupferproduktion aus technischen Gründen zu riesigen Verlusten führen. Aber die Bundesregierung kümmert sich weder um die Netzstabilität noch um bezahlbare Industriestrompreise. Wir haben sechs Bundesministerien, die für Energiepolitik zuständig sind. Aber niemand übernimmt Verantwortung – im Gegenteil: die Ministerien kämpfen gegeneinander. Was wir derzeit dort erleben ist eine organisierte Unverantwortlichkeit. Wir brauchen klare Zuständigkeiten und ein eigenständiges Energieministerium, das die Energiewende vorantreibt. Wenn wir bei zentralen Themen wie der Steigerung der Energieeffizienz nicht vorankommen, sagen in ein paar Jahren die ersten aus Union und FDP: „Tut uns leid, aber wir müssen die Atomkraftwerke doch noch länger laufen lassen.“ Ich will mir nicht ausmalen, was dann in der Bevölkerung los ist. Und, ganz wichtig: Wir brauchen ein unabhängiges Monitoring für die Strompreise, die für die Industrie und Verbraucher nicht unbezahlbar werden darf.
+++ Bundes- und Landes-SPD wollen enger zusammenarbeiten +++
An die Verbraucher sollte man vielleicht auch denken.
Gabriel: Unbedingt. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz ist eine Erfolgsgeschichte. Aber wir müssen über ein paar Probleme offen reden: Das gut verdienende Ehepaar mit Solardach auf dem Eigenheim in Tübingen wird vom Hamburger Facharbeiter, der in einem Hochhaus wohnt, subventioniert. Ein wachsender Teil der Solarmodule wird inzwischen in China hergestellt. Auch die Kosten der erneuerbaren Energien treffen auf Einkommensungleichheit und treffen die einen, während die anderen davon profitieren. Wir müssen diese soziale Ungleichheit jetzt angehen.
Ein Problem sind auch Bürgerinitiativen, die verhindern, dass Stromtrassen und Speicherwerke gebaut werden. Brauchen wir da ein Beschleunigungsgesetz?
Gabriel: Bund und Länder müssen jedenfalls viel intensiver bei der Planung der großen Stomautobahnen zusammenarbeiten. Es gibt Technologien, bei denen man über sehr große Entfernungen vergleichsweise günstig Strom unterirdisch von den Windparks auf hoher See in die Lastschwerpunkte im Süden leiten kann. Ohne Ärger mit irgendwelchen Bürgerinitiativen. Die rechtlichen Voraussetzungen haben wir in der großen Koalition geschaffen – aber die Bundesregierung setzt das nicht um.
Die SPD will vor der Bundestagswahl 2013 nicht gegen Angela Merkel kämpfen, haben Sie angekündigt. Ist Merkel unschlagbar?
Gabriel: Natürlich setzen wir uns hart mit der Merkel-Koalition auseinander. Aber es geht nicht um die Person Angela Merkel, sondern um ihre Politik. Diese Politik vertieft die soziale und die kulturelle Spaltung im Land, lässt wichtige Aufgaben wie die Energiewende aufgrund ihrer inneren Zerstrittenheit liegen und gefährdet damit mittelfristig auch Wirtschaft und Arbeitsplätze.
Machen Sie den Arbeitsmarkt zum Wahlkampfthema?
Gabriel: Der Arbeitsmarkt ist natürlich ein zentrales Thema: Wir brauchen einen gesetzlichen Mindestlohn. Wir brauchen die gleiche Bezahlung von Leiharbeitern und Stammbelegschaft. Fast 25 Prozent der Arbeitnehmer sind in prekärer Beschäftigung, also arbeiten in der Leiharbeit oder sind schlecht bezahlt. Das regt die Menschen zu Recht auf. Zu viele Menschen haben nichts von ihrer Anstrengung und Leistung.
Die Koalition will immerhin die Grenze für Minijobs von 400 auf 450 Euro anheben. Ein gutes Signal?
Gabriel: Ein völlig verkehrtes Signal! Die Entkopplung von Lohn und Arbeitszeit ist bei den Minijobs am schlimmsten. Wir brauchen hier eine Begrenzung der Arbeitszeit. Eine bestimmte Stundenzahl sollte nicht überschritten werden. Wenn man so will, ist das dann ein Mindestlohn für Minijobs.
Seit bald einem Jahr ist Olaf Scholz Hamburger Regierungschef und hat hervorragende Umfragewerte. Was kann die Bundes-SPD von ihm lernen?
Gabriel: Wie Olaf Scholz wirtschaftlichen Erfolg mit sozialer Sicherheit verbindet, ist vorbildlich. Das ist klassisch sozialdemokratische Politik. Er hat sich in seinem Hamburger Wahlkampf auf wenige Themen konzentriert. Und wir sagen mit Blick auf die Bundestagswahl: Wir versprechen so wenig wie nie zuvor. Aber was wir versprechen, werden wir auch halten. So hält es übrigens auch der SPD-Spitzenkandidat im Hamburger Nachbarland Schleswig-Holstein, Thorsten Albig. Für Albig ist klar: es gibt ein zentrales Thema und dafür jeder verfügbare Euro eingesetzt: für die Verbesserung der Bildungs- und Betreuungsangebote. Gerade am Stadtrand von Hamburg ist es für tausende von jungen Frauen und Männern wichtig, ausreichend Betreuungsangebote zu haben, um Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren.
Die Stadtbahn war immer ein Wunsch der Hamburger SPD. Olaf Scholz hat gesagt: Das können wir uns nicht leisten. Ist das beispielgebend?
Gabriel: Alle Parteien haben in der Vergangenheit zu oft vollmundige Versprechen abgegeben, die sie dann nicht halten konnten. Gegenüber den Wählern ist das zynisch. Das ist einer der Gründe, warum viele von der Politik die Nase voll haben.
Sie sagen, jeder SPD-Ministerpräsident kommt als Kanzlerkandidat in Frage. Kann Scholz Kanzler?
Gabriel: Olaf Scholz ist stellvertretender SPD-Vorsitzender. Er hat bewiesen, dass er in der Bundespolitik erfolgreich ist. Wir wären nicht so gut durch die Krise gekommen, hätte Scholz nicht als Arbeitsminister die Kurzarbeiter-Regelung durchgesetzt.
Ist Peer Steinbrück als möglicher Kanzlerkandidat noch im Rennen?
Gabriel: Netter Versuch...
Wie viele sind noch im Rennen?
Gabriel: Ganz viele.
Wer ist Favorit?
Gabriel: Laut einer aktuellen Umfrage sagen 43 Prozent, die SPD müsse ihre politischen Inhalte klarer machen. Nur 6 Prozent sagen, die SPD müsse jetzt einen Kandidaten benennen. Ich glaube, es ist ein kluger Ratschlag, diese Reihenfolge einzuhalten.
Was lehrt uns die Affäre um Christian Wulff, außer dass der Bundespräsident ziemliche Ausdauer besitzt?
Gabriel: Erstens: Frau Merkel hat kein glückliches Händchen bei Personalentscheidungen. Wulff ist bekanntlich ihr Kandidat. Wir hatten mit Joachim Gauck einen anderen Kandidaten vorgeschlagen, den sie aber nicht wollte. Zweitens: Politiker tun gut daran, sich an ihren Vorgängern Beispiele zu nehmen.
Auf wen zielen Sie ab?
Gabriel: Die früheren Bundesminister Georg Leber und Rudolf Seiters traten zurück, weil sie die politische Verantwortung für Fehler ihrer Mitarbeiter übernahmen. Da herrschten noch die Selbstreinigungskräfte der Demokratie. Heute verweist ein Amtsinhaber auf die Fehler seiner Mitarbeiter, damit er im Amt bleiben kann. Christian Wulff hat die Maßstäbe an das Verhalten eines öffentlichen Amtsträgers verschoben.
Gilt das SPD-Angebot noch, gemeinsam mit der Union einen neuen Kandidaten zu suchen?
Gabriel: Das gilt. Wir können Herrn Wulff nicht zum Rücktritt bewegen. Das können nur Frau Merkel und ihre Koalition. Eigentlich haben wir gar keinen Bundespräsidenten mehr. Herr Wulff sitzt zwar noch im Schloss Bellevue. Aber sein einziges Machtmittel, nämlich die Glaubwürdigkeit seiner Rede, ist dahin. Die ganze Affäre ist ein Turbolader für Politikverdrossenheit. Denn die Leute denken, wir sind alle so.