Christoph Rybarczyk hat die Thesen des FDP-Chefs Guido Westerwelle mithilfe von zwei hochkarätigen Wirtschaftsexperten hinterfragt.
Berlin. Geflucht und gelästert wird schon lange über das Arbeitslosengeld II. Im Volksmund heißt es Hartz IV. Das größte Lästermaul reißt der TV-Entertainer Harald Schmidt auf. Er sagte in einer seiner Shows: "Wir feiern fünf Jahre Hartz IV! Ohne Hartz IV hätten Anne Will oder Sandra Maischberger kaum Gäste."
Ansichtssache: Gleichheit ist nicht gerecht
Hartz IV ist ein Geschäftsmodell geworden, beinahe eine Industrie. Tausende verwalten und überwachen im Sozialstaat diejenigen, die Staatshilfe bekommen. Anwälte, Berater und Website-Anbieter umwerben die hilfsbedürftige Klientel. Bei den Sozialgerichten biegen sich die Tische unter der Last der Klagen. Politiker wie Sozialministerin Ursula von der Leyen (CDU) sind die Anwälte der Reform und ihrer Betroffenen. Der FDP-Chef und Außenminister Guido Westerwelle gehört zu den Anklägern. Seine Einschätzungen haben zu einer Debatte geführt, die weit über Hartz IV hinausgeht. Das Abendblatt hat Westerwelles Thesen dem Expertencheck unterzogen. Der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (Köln), Prof. Michael Hüther, sowie der frühere Wirtschaftsweise Prof. Bert Rürup (MaschmeyerRürup AG) sind dabei die Kronzeugen.
1. "Die Diskussion nach der Karlsruher Hartz-IV-Entscheidung hat sozialistische Züge."
Mit dem Begriff "Sozialismus" wurden lange keine Debatten mehr geführt. Nach dem Spruch der Karlsruher Richter zu dem, was ein Mensch zum Leben braucht, ist vieles durcheinandergeraten. Der Experte Hüther sagt: "Das Verfassungsgerichtsurteil ist kein Auftrag für höhere Hartz-IV-Sätze." Die Debatte kreise um Verteilung von oben nach unten. "Das ist kein Sozialismus, macht aber deutlich, wie wichtig es ist, die Leistungsgerechtigkeit als Grundprinzip der freiheitlichen Ordnung gegenüber der Bedarfsgerechtigkeit zu verteidigen." Auch Rürup meint: Die Richter haben über Geld gar nicht gesprochen. Also hüte sich, wer höhere oder niedrigere Hartz-Zahlungen fordert.
Einen Punkt gegen das Killerargument "Sozialismus" macht Rürup so deutlich: "Jeder Hilfsbedürftige hat bei uns einen Anspruch auf die Solidarität der Gesellschaft." Aber: Er müsse sich anstrengen, aus dieser Hilfsbedürftigkeit herauszukommen.
2. "Wie in einem pawlowschen Reflex wird gerufen, jetzt könne es erst recht keine Entlastung der Bürger mehr geben, das Geld brauche man für höhere Hartz-IV-Sätze."
Das eine tun heißt nicht, das andere zu lassen. So sehen es die Experten. "An der notwendigen Reform bei Hartz IV wird eine Steuerentlastung nicht scheitern müssen", sagt Hüther. Rürup weiß, dass das Steuersystem auf neue Füße gestellt werden muss. Doch Bankenrettung und Konjunkturpakete haben bislang für eine Staatsverschuldung gesorgt, die bis 2013 bei knapp 500 Milliarden Euro liegen wird. Rürup redet deshalb von "massiven Konsolidierungsanstrengungen, sprich Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen". Heißt: Ebbe in der Staatskasse, kein Geld für gar nichts. Extremsparen ist angesagt.
3. "CDs mit den Daten krimineller Steuerhinterzieher erregen die ganze Republik. Tausendmal mehr Bürger, die für ihre Arbeit weniger bekommen, als wenn sie Hartz IV bezögen, tun es nicht. Empfänger sind in aller Munde. Doch die, die alles bezahlen, finden kaum Beachtung."
Was viele Steuerzahler erzürnt, nennen die Wirtschaftsexperten "überdreht". Hüther fordert mehr Leistungsanreize im Steuer- und Sozialsystem und eine bessere Bildungspolitik. "Daran gemessen ist die Steuersünder-CD ein reines Stammtischthema." Auch Rürup meint: "Ich denke, man sollte verbal abrüsten." Das ist bei diesem Punkt heikel. Will Westerwelle die Steuersünder zu Kavaliers-Kriminellen machen? Will er von ihren Missetaten ablenken auf den fehlenden Aufschrei derer, die für kleine Löhne hart arbeiten? Auch wenn die oberen Zehntausend die Hälfte zum deutschen Einkommenssteueraufkommen beitragen, so wird doch Ehrlichkeit erwartet. Sünder bleibt Sünder - bei Vermögenden gilt das umso länger. Hüther spielt auf den Aufstieg durch Bildung an. Nach vielen Erhebungen kommen immer weniger Studenten aus einfachen Familien, werden Bildung und Ausbildung immer kostspieliger.
4. "Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein."
Über früh- und spätrömisch ist lange räsoniert worden. Hüther meint: "Der historische Vergleich ist weder sinnvoll noch hilfreich." Die Hartz-Reformen seien erfolgreich gewesen: eine Grundsicherung, keine Doppelstrukturen mehr. "Alle beschäftigungsfähigen Empfänger von Sozialhilfe werden in die Arbeitsmarktförderung einbezogen." Jetzt müsse man gegen die Macken angehen. Bei kleinen Jobs müsse mehr im Portemonnaie bleiben. Alleinerziehende dürften nicht mehr benachteiligt werden.
Rente mit 67, mehr private Altersvorsorge, mehr Eigenverantwortung der Bürger - kaum ein Thema, das Bert Rürup in den vergangenen Jahren nicht mit seinem Namen geprägt hätte. Gewagte Vergleiche lehnt er ab. "Aufgabe jedes modernen Staates sollte es sein, jedem hilfsbedürftigen Bürger in jeder Lebenslage das soziokulturelle Existenzminimum zu gewährleisten. Die Höhe dieses Existenzminimums festzusetzen ist aber kein statistisches Problem, sondern ein genuin politisches." Fein herausgeredet, könnte man meinen. Aber man kann ähnlich wie das Bundesverfassungsgericht fordern: Die Bundesregierung muss genauer festlegen, wie viel Geld und welche Leistung (Kita-Plätze, kostenloses Mittagessen) zur Menschenwürde gehört.
5. "Diejenigen, die arbeiten, werden mehr und mehr zu den Deppen der Nation. Wer arbeitet, sollte mehr haben als derjenige, der nicht arbeitet."
Die Argumentation lässt dem Experten den Hut hochgehen: "Wir sollten aufhören, undifferenziert die sogenannten Aufstocker zu skandalisieren. Immerhin handelt es sich hier um Personen, die nicht ausschließlich von Transfers leben", wettert Hüther. Er beklagt die Schwäche im deutschen Steuersystem. "Hier kommt der Facharbeiter - zusammen mit den Sozialabgaben - schnell in eine hohe Grenzbesteuerung."
Westerwelle legt den Finger in die tiefste Hartz-Wunde. Bedürftige Familienväter oder -mütter könnten kaum einen Anreiz haben, einen Job anzunehmen, der ihnen wenig mehr als die Stütze einbringt. Da bleiben von 400 Euro Hinzuverdienst oft nur 160 im Portemonnaie. Rürup entlarvt allerdings ebenfalls Westerwelles Argumentation: "Wer mit dem Lohnabstandsgebot argumentiert, müsste eigentlich auch den Mut haben, einen moderaten, flächendeckenden Mindestlohn in Betracht zu ziehen." Und den kann der FDP-Mann nicht wollen.
6. "Alles in allem werden 60 Prozent des Bundeshaushalts für Sozialausgaben verwendet. Wenn das so weitergeht, wird durch diese Umverteilungspolitik der ganz normale Steuerzahler zum Sozialfall."
Hüther warnt: "Vorsicht bei Globalzahlen. Aber wichtig ist: Im Jahr 2007 bezogen 42,4 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung in Deutschland Sozialleistungen - Renten, Kurzarbeiter- und Arbeitslosengeld sowie andere staatliche Unterstützungen. Es fehlt also nicht mehr viel, bis jeder zweite Wahlberechtigte vom Staat alimentiert wird."
Rürup stemmt sich mit aller Macht gegen Westerwelles Behauptung: "Angesichts der Steuer-, Sozial- und Arbeitsmarktreformen in den letzten zehn Jahren wird man wahrlich nicht von einem Marsch in den Sozialismus sprechen können. Genauso wenig kann man diese Reformen als Ausfluss eines kalten Neoliberalismus und als Weg in eine gesellschaftliche Verarmung diffamieren."
Festzuhalten bleibt: Kanzler Gerhard Schröder hat einst die Ökosteuer durchgesetzt. Die Milliarden daraus flossen größtenteils in die Rentenkasse. Die war leer wegen der deutschen Einheit, hoher Arbeitslosigkeit und weil es immer mehr Rentner gibt. Auch heute fließen 80 Milliarden Euro jährlich aus der Staatskasse, damit die Rentner jeden Monat das bekommen, worauf sie einen Anspruch haben. Auf die Spitze getrieben werden dann auch Rentner zu "Sozialfällen".
Sozialismus, Sozialstaat - wer sind nun die Deppen? Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) hat in einem "Spiegel"-Interview die DDR angeprangert, in der er 37 Jahre lebte: "Menschen haben geackert, haben kluge Dinge erfunden, haben etwas geleistet, und es ist tagtäglich entwertet worden. Dieses System hat der großen Mehrheit der Menschen jede Perspektive, jede Entwicklungsmöglichkeit genommen." Der Sozialismus ist tot. Mit dem Sozialstaat können wir leben.