Der gebürtige Hamburger Peer Steinbrück über das Loslassen von der Macht, sein großes Buchprojekt und die Millionenspende an die FDP.
Hamburger Abendblatt: Herr Steinbrück, Sie waren 2009 der deutsche Politiker, der international am meisten provoziert hat. Vermissen Sie es, der Bad Guy der Finanzszene zu sein?
Peer Steinbrück: Nein. Ich war nie an Provokation interessiert. Ich habe Bilder gebraucht, die manche in den falschen Hals gekriegt haben, aber Steuerhinterziehung und Steuerbetrug sind ja keine Kavaliersdelikte. Im Gegenteil: Sie gefährden den Zusammenhalt in unserem Land.
Abendblatt:Wie man hört, sitzen Sie an einem Buch über diese Zeit. Wer Sie kennt, wird davon ausgehen müssen, dass es eine Abrechnung wird ...
Steinbrück: Nein, es wird eine grundsätzliche Betrachtung über Politik und Gesellschaft in Deutschland. Aber natürlich spielt die Finanzkrise darin eine Rolle.
Abendblatt: Sind Sie ein Moralist, Herr Steinbrück?
Steinbrück: Nein. Ich glaube nicht, dass mir jemals dieses Etikett verpasst worden ist. Zumal es auch Situationen gegeben hat, in denen ich mich nicht sehr moralisch aufgestellt habe.
Abendblatt: Würden Sie ein Beispiel geben?
Steinbrück: Nein! Selbstkasteiung ist nicht mein Ding.
Abendblatt: Sie gelten als begabter Redner. Wie schätzen Sie sich denn als Schreiber ein?
Steinbrück: Diese Frage zu beantworten, ist gefährlich. Entweder übertreibt man in einem Anfall von Eitelkeit seine Qualitäten, oder man stapelt so tief, dass die Leser sagen: "Das ist er ja auch nicht."
Abendblatt: Erfahrungsgemäß sind Bücher von Politikern grottenlangweilig ...
Steinbrück: Das werde ich zu vermeiden versuchen.
Abendblatt: Haben Sie Vorbilder beim Schreiben?
Steinbrück: Nein, aber es gibt Bücher von Politikern, die fesselnd und lesenswert sind - zum Beispiel von Helmut Schmidt. Generell bewundere ich den narrativen Stil angloamerikanischer Historiker wie Niall Ferguson, Ian Kershaw, William Manchester oder Paul Kennedy. Die kommen ohne akademische Attitüde daher und einem abgespeckten Fußnotensalat.
Abendblatt: Seit der Wahl sind Sie einfacher Bundestagsabgeordneter. Wie fühlt sich das an?
Steinbrück: Ich finde das ganz angenehm. Nach 16 Jahren in der Landes- und in der Bundespolitik ist es kein Tiefschlag, aus einem Amt herausgewählt zu werden. Das, was ich wiedergewonnen habe, ist Zeitsouveränität. Auch Lebensqualität. Ich kann mir meine Aufgaben und Herausforderungen aussuchen. Das ist eine völlig neue und höchst angenehme Erfahrung.
Abendblatt: Aber wie ist es, im Bundestag zu sitzen, wenn über den Haushalt debattiert wird?
Steinbrück: Es juckt mich manchmal schon in den Fingern. Aber es war richtig, einen Strich zu ziehen. Ich halte nichts davon, ständig aus dem Off besserwisserische Kommentare abzugeben. Diejenigen, die jetzt in der SPD für Finanzen zuständig sind, wissen es übrigens auch zu schätzen, dass ich nicht wie Merlin im Hintergrund herumzaubere.
Abendblatt: Sind Sie denn gar nicht mehr ehrgeizig?
Steinbrück: Ich bin 63.
Abendblatt: Das schließt Ehrgeiz nicht aus.
Steinbrück: Aber er schleift sich ab. Ich war Minister in Schleswig-Holstein, ich war Minister in Nordrhein-Westfalen, ich war Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen, ich war Bundesminister - ich wüsste nicht, worauf sich mein Ehrgeiz noch richten sollte.
Abendblatt: Welche Eigenschaften braucht ein Spitzenpolitiker?
Steinbrück: Na ja, die alten politischen Tugenden von Max Weber: Augenmaß, Leidenschaft, Verantwortungsgefühl. Intelligenz und Talent sind natürlich auch von Vorteil. Eine langsame Auffassungsgabe und eine unterentwickelte Rhetorik befördern eine politische Karriere jedenfalls nicht.
Abendblatt: Inzwischen sitzen in der Regierung Leute, die die 30 kaum überschritten haben ...
Steinbrück: ... da bin ich skeptisch und mache daraus keinen Hehl. Ministerien sind sehr komplizierte Verwaltungsapparate. Und gelegentlich sind diese Apparate auch darauf gerichtet, ihre eigene Logik zu entwickeln. Die informieren einen nicht falsch, aber sie sagen einem unter Umständen nicht alles. Der Primat der Politik hat sich deshalb gelegentlich gegen den Primat der Administration durchzusetzen. Das ist eine Frage von Führung. Eine Frage von Autorität. Und eine Frage der Erfahrung. Um die 30 kann man dafür kaum ausreichend trainiert sein.
Abendblatt: Verteidigungsminister Guttenberg muss so einen Kampf in seinem Haus gerade führen.
Steinbrück: Guttenberg hat sicher Durchsetzungsvermögen. Es kann auch sein, dass er die Mechanismen, wie eine Verwaltung tickt, auf seinem Bildschirm hat. Aber an der Kundus-Affäre sieht man, dass es auch für ihn schwierig ist, das Verteidigungsministerium so zu führen, dass er ausreichend und widerspruchsfrei informiert ist.
Abendblatt: Das zweite Kabinett Merkel gilt als modern, weil es viele Minderheiten repräsentiert - Rösler stammt aus Vietnam, Westerwelle bekennt sich zu seiner Homosexualität ...
Steinbrück: ... das waren doch keine Kriterien dafür, ins Kabinett zu kommen! Ich kann nichts anfangen mit dem Begriff einer modernen Regierung. Mir ist völlig wurscht, wer da welches Attribut aufweist. Hauptsache, die machen kompetente Politik.
Abendblatt: Aber Sie beißen sich lieber wieder auf die Zunge, als noch mehr dazu zu sagen! Doch vielleicht zu den Liberalen, die sich gerade diskreditiert haben, weil sie eine Millionenspende aus der Hotellerie angenommen haben: Darf in der Politik erlaubt sein, was nicht verboten ist?
Steinbrück: In Zeiten zunehmender Politikverdrossenheit sind Parteien gut beraten, das Empfinden der Wähler zu berücksichtigen, was sich gehört und was nicht. Was rechtlich möglich ist, ist politisch oder stilistisch keineswegs erlaubt. Die FDP unterliegt einem besonderen Risiko, sich der Klientelpolitik verdächtig zu machen. Und in diesem Fall hat sie sich verdächtig gemacht. Es wäre stilbildend, die Million zurückzuzahlen.
Abendblatt: Die Mehrwertsteuersenkung für das Hotelgewerbe hat Sie also nicht überzeugt?
Steinbrück: Nein. In der Großen Koalition war glasklar verabredet, dass solche Ausnahmen, denen wir in der EU um des Konsenses willen eingeschränkt zugestimmt haben, definitiv nicht auf Deutschland übertragen werden. Übrigens in Gegenwart des damaligen Bundesministers und heutigen bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer.
Abendblatt: Seit gestern sucht die Weltelite in Davos nach einem Rezept gegen die Krise. Wären Sie gerne dabei?
Steinbrück: Nein. Selbst wenn ich noch Minister wäre, würde ich nicht nach Davos fahren. Die Veranstaltung ist fast schon eine Art Catwalk für Politiker und Manager. Es wird nicht mehr lange dauern, und dann erscheinen da auch Schauspieler! Es gibt in Davos kaum noch Gelegenheit, sich für wichtige Gespräche zurückzuziehen. Der ursprüngliche Sinn des Weltwirtschaftsforums ist damit verloren gegangen.
Abendblatt: Teilen Sie die euphorischen Reaktionen auf die Reformpläne von US-Präsident Obama, der die Banken strenger an die Kandare nehmen und die Zocker künftig aus dem klassischen Bankgeschäft heraushalten will?
Steinbrück: Ja. Man wird weltweit ohne die Amerikaner keine stärkeren Regulierungen durchsetzen. Kontinentaleuropa hat lange zusehen müssen, wie die USA und England ihre Wettbewerbsvorteile mit Blick auf die Wallstreet und die City of London verteidigt haben. Ich registriere mit Genugtuung, dass der amerikanische Präsident die Zügel anziehen will. Ob jeder seiner Vorschläge richtig ist, wird man im G7- und G20-Kreis zu debattieren haben. Fest steht: Es gibt immer noch eine enorme Selbstgefälligkeit in den Führungsetagen international operierender Banken, die dringend bekämpft werden muss. Ich sage voraus: Ein zweites Mal würde man im Deutschen Bundestag und in anderen Parlamenten Bankenrettungspakete in Milliardensummen nicht durchziehen können. Die Abgeordneten könnten das vor ihren Wählern nicht noch einmal rechtfertigen.
Abendblatt: Sie haben als Student in einer Lotto-Annahmestelle gejobbt. Jetzt sitzen Sie im Aufsichtsrat von Thyssen-Krupp. Wo ist der Unterschied?
Steinbrück: Damals habe ich darüber nachgedacht, wie ich nach der Ziehung einen Zettel mit sechs Richtigen zwischen die 8000 Lottoscheine schmuggeln könnte, die ich vor der Ziehung abstempeln musste.
Abendblatt: So viel zum Thema Moral ...
Steinbrück: ... und wenn wir schon dabei sind: Ich habe als Kind über einen Einbruch bei der Hamburgischen Landesbank nachgedacht! Warum? Mein Vater war Architekt. Er hatte in seinem Büro die Pläne der Bank, die sich damals noch an der Bergstraße befand, und ich stellte fest, dass der Tresorraum nicht sehr weit von einem Abwasserkanal entfernt war.
Abendblatt: Würden Sie sich als Macher bezeichnen?
Steinbrück: Nicht, wenn Sie damit Prinzipienlosigkeit verbinden. Aber richtig ist, dass es in der Politik nicht auf das Gutgemeinte, sondern auf das Gutgemachte ankommt. Und es gilt nach wie vor Lassalle: "Alle große politische Aktion besteht im Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit. Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist."