Der Luftangriff in Kundus sorgt in Deutschland auch nach vier Monaten noch für Aufregung. Die Soldaten dort können das, kaum nachvollziehen.
Kundus. Höhe 431 nennen die Militärs den Hügel im nordafghanischen Distrikt Char Darah, auf dem die Bundeswehr Stellung bezogen hat. Hier erinnert nichts mehr an Soldaten, die am Hindukusch Brunnen bohren oder Brücken bauen. Hier sind Deutsche im Krieg, so empfinden das jedenfalls die Truppen. Soldaten stehen an schweren Maschinengewehren. Scharfschützen beobachten von ihren Stellungen aus das Umland. Jeder hier war schon im Gefecht mit den Taliban. Die Soldaten wurden vom Bundestag an diesen unwirtlichen Flecken Erde in der Provinz Kundus geschickt - nun fühlen sich viele von ihnen von der Heimat im Stich gelassen.
Am Vormittag wartet ein Zug Kampftruppen im Feldlager in Kundus darauf, die Kameraden der Schnellen Eingreiftruppe (Quick Reaction Force/QRF) auf der Höhe 431 abzulösen. Die Soldaten scherzen miteinander, einige rauchen vor der Abfahrt des Konvois noch eine Zigarette. Die kommenden Tage werden die inzwischen kampferprobten Männer außerhalb der Camp-Mauern verbringen, die Bundeswehr will Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen. Soldaten sollen nicht mehr nur für kurzfristige Operationen ausrücken, ins Lager zurückkehren und den Taliban das mühsam eroberte Gelände wieder kampflos überlassen. "Das Grundprinzip unseres Vorgehens ist, dass wir nur reingehen, wenn wir und die afghanischen Sicherheitskräfte auch auf Dauer bleiben können", sagt der Kommandeur des Wiederaufbauteams (PRT), Oberst Kai Rohrschneider.
Die Ablösung für die Höhe 431 ist an diesem Wintertag bereit zum Abmarsch aus dem Feldlager. "Feindlage unverändert", sagt ein Unteroffizier. Die Warnungen vor Sprengfallen aus den letzten Tagen seien "so weit noch intakt". Es gebe Hinweise, dass Aufständische drei Fahrzeuge zu rollenden Bomben umgebaut hätten, eines davon angeblich mit 300 Kilogramm Sprengstoff. "Elbe" und "Donau" hat die Bundeswehr die Markierungspunkte auf der Route nach Char Darah genannt, die der Konvoi mit Panzerfahrzeugen der Typen Dingo und Fuchs nehmen wird. Die Soldaten tragen Splitterschutzwesten.
Die Taliban, sagt ein Soldat, wirkten oftmals völlig unbeeindruckt von der Übermacht des Gegners. Kämpfer der Aufständischen würden sich offen auf ein Feld stellen und so lange angreifen, bis sie erschossen würden. Hauptbootsmann Holger - wie bei allen Soldaten hier darf nur der Vorname genannt werden - sitzt am Steuer eines Dingos. Er rät dazu, den Helm abzusetzen. Bei einem IED-Anschlag - im Militärjargon steht IED für Improvised Explosive Device, einen selbst gebauten Sprengsatz - könnte die Druckwelle die Insassen gegen die Fahrzeugdecke schleudern. Der Helm könnte einem dann das Genick brechen.
Der Konvoi fährt los, durch den Südteil von Kundus-Stadt, dann hinein nach Char Darah. Dann kommt aus einem der Panzerfahrzeuge ein Funkspruch, dass ein Afghane am Straßenrand ein Handy zückt. Die Taliban haben ein Netzwerk an "Spottern", die Truppenbewegungen melden. Viel können die Soldaten dagegen nicht unternehmen - der Afghane könnte schließlich nur einen Freund anrufen.
Holger ist seit November in Kundus, im Winter zuvor war er das erste Mal dort eingesetzt. "Selbstverständlich ist die Lage angespannter", sagt er. Angst habe er dennoch nicht, wenn er das Camp verlasse, sagt Holger. Den Einsatz halte er "selbstverständlich" für sinnvoll, sagt Holger. "Sonst wäre ich nicht hier." Zur Debatte in der Heimat, wo eine Mehrheit der Bevölkerung den Abzug der Truppen vom Hindukusch fordert, meint der Hauptbootsmann: "Diese Diskussion wird von Leuten geführt, die mit Sicherheit belesen sind, was diesen Einsatz betrifft, aber diese Umstände hier vor Ort nicht persönlich nachvollziehen können. Jeder, der versucht, sich ein Urteil darüber zu bilden, sollte sich hier mal zum Dienst melden."
Der Konvoi hat den Fuß des Hügels erreicht. Die Soldaten steigen aus und tragen ihre Ausrüstung auf die Höhe 431. Nach der Schlepperei steht Dustin trotz der Kälte der Schweiß auf der Stirn, der junge Mann gehört zur Ablösung und wird die nächsten Tage auf dem Hügel ausharren. Am linken Ärmel seiner Uniform hat er einen Aufnäher angebracht, auf dem in Anlehnung an die Modemarke Tommy Hilfiger "Taliban Hillfighter" steht, Hügelkämpfer gegen die Taliban.
Für viele Soldaten ist unverständlich, was der Luftangriff in Char Darah am 4. September vergangenen Jahres für eine Diskussion in Deutschland losgetreten hat. Den Angriff ordnete die Bundeswehr an, neben Taliban-Kämpfern starben auch Zivilisten. Der Bundestag setzte einen Untersuchungsausschuss ein, der Staatsanwalt nahm Ermittlungen auf. "Alle sind auf dem 4. September hängen geblieben", sagt Dustin zur Debatte in der Heimat. "Was in der Zwischenzeit schon wieder passiert ist oder wie uns auch die Taliban hier zusetzen, das interessiert dann zu Hause keinen mehr." Weiter meint Dustin: "Ich spreche da für viele, glaube ich, die hier sind, da fühlt man sich schon im Stich gelassen." Wenn er sehe, wie Soldaten anderer Nationen von der Bevölkerung in ihrer Heimat unterstützt würden, "dann ist das schon ganz traurig. Wir machen ja hier keine schlechte Arbeit. Aber die Deutschen werden meiner Meinung nach einfach zu wenig aufgeklärt über das, was hier passiert. Es sind ja auch gute Sachen. Wir treiben ja auch einiges voran hier."
Und diese Meinung herrscht nicht nur unter den Kampftruppen vor. Militärseelsorger Mark im Camp in Kundus sagt: "Es frustriert einen schon, weil die Kameraden hier im Einsatz einen hervorragenden Job leisten." Die Debatte in Deutschland sorge für Unsicherheit im Einsatz und sei gefährlich. Wenn ein Soldat aus Angst vor dem Staatsanwalt erst darüber nachdenke, ob er im Gefecht seine Waffe gebrauchen solle, dann "kann das im Zweifelsfall das eigene Leben oder das Leben der Kameraden bedeuten. Und das belastet die Jungs und Mädels auf jeden Fall."
Während Holger, Dustin und die anderen Soldaten Stellung an der Höhe 431 beziehen, freuen sich ihre abgelösten Kameraden auf die Rückkehr ins Feldlager, auf die Duschen, auf warmes Essen, auf ein Dach über dem Kopf. Drei Tage lang haben die Soldaten von der Schnellen Eingreiftruppe in der afghanischen Winterkälte unter freiem Himmel geschlafen und sich von EPAs ernährt, den Bundeswehr-Paketen mit Fertiggerichten. Die Belastung, sagt der QRF-Zugführer, sei hoch, die Soldaten seien immer kürzer im Camp und immer öfter draußen. Seit Oktober ist seine Kompanie in Kundus, der Zugführer hat den Überblick über die genaue Anzahl der Kämpfe seitdem verloren. "Fünf bis zehn Mal" seien die Soldaten in Feuergefechte mit den Taliban verwickelt gewesen, schätzt er.
Der Konvoi der QRF passiert Kundus-Stadt, die Fahrer biegen kurz vor dem Stadttor nach links ab. Die Panzerfahrzeuge erklimmen eine Anhöhe und erreichen das Plateau, auf dem das deutsche Lager wie eine Festung liegt. Die QRF-Soldaten kehren vollzählig und unversehrt aus Char Darah zurück. Im Camp hat die Feldküche Rührei mit Kartoffeln und Spinat zubereitet. Während in der Heimat hitzig über das Engagement am Hindukusch diskutiert wird, werden sie in wenigen Tagen wieder ausrücken - zum nächsten lebensgefährlichen Einsatz nach Char Darah.