Die tödlichen Schläge gegen einen 50 Jahre alten Münchner haben Entsetzen ausgelöst und Fragen aufgeworfen.
Solln ist der südlichste und höchste Punkt Münchens. Ein beschaulicher Ortsteil mit überdurchschnittlich hohem Akademikeranteil, der offene und pure Gewalt, wie sie am Wochenende ausbrach, bislang nicht kannte. Kerzen und Schnittblumen verdecken den Blutfleck auf dem Bahnsteig der Linie S 7 am Bahnhof, der zu einer kleinen Gedenkstätte geworden ist. Hier ist der 50 Jahre alte Dominik Brunner aus Ergoldsbach im Kreis Landshut gestorben - weil er anderen helfen wollte.
Sein sinnloser Tod zeigt, wie sehr sich zwei Pole dieser Gesellschaft voneinander entfernt haben. Auf der einen Seite der selbstlose Helfer, der auch als Manager in seinem Unternehmen immer die Nähe zu seinen Mitarbeitern suchte, für Ausgleich und Versöhnung stand. Auf der anderen Seite brutale junge Menschen, die nur das Faustrecht kennen und für das Gemeinwesen verloren sind. Eine Begegnung mit tragischen Folgen, die ein verheerendes Signal liefert: Sind Hilfsbereitschaft und Zivilcourage lebensgefährlich?
Mit unvorstellbarer Gewalt haben zwei Jugendliche Münchner, Markus Sch. (18) und Sebastian L. (17), auf den Mann eingeprügelt und getreten. Die Mediziner zählten 22 Verletzungen an Kopf und Oberkörper, die das Opfer innerhalb weniger Minuten erlitten haben muss. Während der Attacken soll es mit dem Kopf gegen ein Geländer geprallt sein. Eine genaue Todesursache hat die Obduktion bislang nicht ergeben.
Nur 800 Meter weiter - und Dominik Brunner wäre in Sicherheit gewesen. Denn dort hatte der Vorstand eines Herstellers von Dachziegeln und Schornsteinsystemen (Erlus AG) eine Wohnung in einer der für Solln typischen ruhigen Seitenstraßen. Nachbarn versuchen das Geschehene zu verarbeiten. "Dass der Mann für seine Zivilcourage bestraft wurde, ist doppelt schrecklich", sagt Viviane Hagemeister. Für Karen Schellenberg ist mit der Abfahrt des Rettungswagens ein Weltbild gekippt: "Für mich war das hier immer ein Märchenland." Warum gerade Solln? Antworten findet hier niemand. Auch er sei schon in der Bahn angepöbelt worden, sagt Wilhelm Nagel, der lange hier gelebt hat: "Einer hat mir auf die Nase geschlagen."
Dominik Brunner wohnte in einem Vier-Parteien-Haus. Die Rollläden und Vorhänge sind zugezogen. "Ich bin bestürzt", ist alles, was eine Nachbarin aus dem Haus sagen mag. Eine Radfahrerin kommt aus der Kirche. "Der Pfarrer hat gesagt, wir beten für den Getöteten und für die, die das getan haben", sagt sie.
In seinem Heimatort Ergoldsbach, einer Gemeinde mit 7500 Einwohnern, erinnern sie sich an das Opfer als einen lebensfrohen Menschen, der viele Verbindungen pflegte, immer Zeit für ein Gespräch hatte. Ein Mittelständler, der noch wusste, was ihm seine Angestellten wert sind. "Er war ein sehr umgänglicher Mensch", sagt Bürgermeister Ludwig Robold. Erst vor ein paar Monaten habe er seinen 50. Geburtstag gefeiert - und gebeten, ihm keine Geschenke zu kaufen. Stattdessen ließ er sie für wohltätige Organisationen spenden. "Er war ausgleichend", sagt Robold, "lebensfroh und freundlich." Er wollte wieder zurückkehren und sich um seine Eltern kümmern.
In einem Holzmarkt nur hundert Meter von der Fabrik und dem Wohnhaus des Opfers entfernt, gibt es trotz der schrecklichen Nachrichten einen Tag der offenen Tür. "Schrecklich", findet eine Verkäuferin. "Aber ich hätte genauso wie er gehandelt. Man muss doch eingreifen, wenn jemand in Not ist." Das meinte auch die Verkäuferin in der Bäckerei gegenüber der kleinen Marktkirche. Hier kaufte Dominik Brunner oft seine Brötchen. Sie erinnert sich: "Er war ein netter Mann, ruhig, gelassen, der Hilfsbereitschaft ausstrahlte." Eine Hilfsbereitschaft, die ihn nun das Leben kostete.
Dabei hatte sich Dominik Brunner so verhalten, wie Polizei und Psychologen immer wieder raten. Er hatte beobachtet, wie vier Jugendliche, eigentlich noch Kinder zwischen 13 und 15 Jahren, bedrängt und bedroht wurden. Und als sie die geforderten 15 Euro nicht herausgeben wollten, gab es Schläge. Dominik Brunner versuchte zu schlichten, strahlte dabei überlegte Gelassenheit aus. Er verständigte mit seinem Mobiltelefon die Notrufzentrale und nannte präzise die Haltestelle, an der er aussteigen würde. Aber als die Einsatzkräfte dort eintrafen, lag das Opfer lebensgefährlich verletzt auf dem Bahnsteig. Dominik Brunner hatte nicht ahnen können, zu welcher brutalen Gewalt die beiden Täter fähig waren.
Junge Menschen, über die der "Focus" schreibt: "Halbstarke im Blutrausch". Halbwüchsige, die jetzt in Untersuchungshaft sitzen und auf Anraten ihrer Anwälte schweigen. Bei Markus Sch. wurde ein Blutalkoholwert von 0,89 Promille festgestellt, Sebastian L. hatte nichts getrunken. Beide sind arbeitslos, haben keine Berufsausbildung, keine Perspektive. Was sie bewegt, stellen sie ohne Skrupel ins Internet. Markus Sch., der Ältere, schrieb auf der Online-Gemeinschaft "Lokalisten.de": "Ich lebe jeden Tag so, als wär's mein erster. Ich scheiß drauf, was ich gestern gelernt hab'." Er ist tätowiert, auf seinem Unterarm steht in großen Buchstaben "Hip-Hop". Gangsta-Rap ist seine große Vorliebe, die Songs von Tupac, Dr. Dre und Eminem sind seine Hymnen, die Gewalt verherrlichenden Texte seine Lebensanleitung. Die vier Wochen Arrest, die er zuletzt wegen räuberischer Erpressung absaß, beschrieb er im Internet locker als "Urlaub in Stadelheim". Abgeschreckt haben sie nicht.
Sebastian L., der Jüngere, immer wieder zwischen Mutter, Vater und Stiefvater hin- und hergerissen, hat zwei Einträge im Strafregister: Diebstahl und Drogenbesitz. Er wohnt in einem Heim für drogenabhängige Jugendliche. Das therapeutische Konzept einer Drogenhilfe gewährt den Bewohnern offenbar auch Freiheiten: die Chance, pöbelnd und prügelnd durch die Stadt zu ziehen.
Als dritter Verdächtiger wurde mittlerweile der 17-jährige Christoph T. in Haft genommen. Er war nicht direkt an den tödlichen Schlägen beteiligt, soll seine Freunde aber aufgehetzt haben: "Besorgt's denen richtig", wollen Zeugen gehört haben.
Wo aber waren diese Zeugen während der Tat?
Trotz aller spektakulären Fälle: Faktisch hat die Jugendkriminalität nachgelassen. Doch gebe es drei Risikofaktoren, die Gefahren heraufbeschwören, sagt der Kriminologe Christian Pfeiffer: "Der deutlich gestiegene Alkoholkonsum Jugendlicher, die Abstumpfung durch brutale Computerspiele und die Zusammenballung belasteter Jugendlicher aus Randgruppen in Hauptschulen oder in großstädtischen Jugendzentren."
Seltsam milde und abwartend reagierte die Politik. Im Kanzlerduell am Sonntag mochte kein Moderator die Position der Kandidaten zur tödlichen Straßengewalt abfragen. Und auch die Parteien wachten erst am Montag so richtig auf. Womöglich schreckt sie das Beispiel von Roland Koch bei der Hessen-Wahl 2008 ab, der die schweren Verletzungen eines Münchner U-Bahn-Opfers politisch ausschlachten wollte und dafür abgestraft wurde.
Das bayerische Kabinett will sich morgen mit dem Thema befassen. Ministerpräsident Horst Seehofer forderte, Menschen, die "in bewundernswerter Weise Zivilcourage aufbringen", müssten stärker geschützt werden. Er setzt auf Polizeipräsenz, Videoüberwachung und Aufklärung an Schulen. Allein Innenminister Joachim Herrmann möchte das Strafrecht verschärfen: die Höchststrafe für Jugendliche müsste von zehn auf 15 Jahre erhöht, Täter über 18 Jahre müssten grundsätzlich wie Erwachsene belangt werden.
Wer aber stellt sich jetzt noch Gewalttätern in den Weg? Ist die viel beschworene Zivilcourage keine Option mehr, wenn man alleingelassen wird? Konrad Freiberg, Chef der Polizeigewerkschaft GdP, empfand "Trauer und Wut". Das Opfer, meinte er, habe "vorbildlich" gehandelt.
Dominik Brunner kann diese Worte nicht mehr hören.