EU-Energiekommissar Günther Oettinger glaubt nicht daran, dass Europa ein schneller Ausstieg aus der Kernenergie gelingen wird.
Hamburg. Er kam zu einem Kurzbesuch in die Hansestadt, hielt einen Vortrag, schüttelte Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) die Hand. In einem Minibus, der ihn vom Flughafen zum Rathaus brachte, fand sich Günther Oettinger zum Abendblatt-Interview bereit. Der EU-Energiekommissar sagte, warum er eine schnelle Energiewende für gefährlich hält - und weshalb Deutschland für die Rettung des Euro noch mehr Geld bereitstellen muss.
Hamburger Abendblatt:
Herr Kommissar, was wissen Sie über die Lage im havarierten Atomkraftwerk Fukushima?
Günther Oettinger:
Die Gefahr ist in den letzten Tagen nicht mehr größer geworden. Aber es wird noch Monate dauern, bis man Entwarnung geben kann.
Wie beurteilen Sie das Krisenmanagement der Japaner?
Oettinger:
Es wäre zu einfach, von Europa aus die japanische Regierung zu kritisieren. Die Lage war schwierig. Dennoch wäre es im Interesse aller, wenn wir im Detail Bescheid wüssten über die Ursachen der Katastrophe und über die Maßnahmen, die zu ihrer Begrenzung ergriffen wurden. Dazu gehören Informationen über die Notfallpläne wie auch über die Qualifikation der Arbeiter im Reaktor.
Wird es einen verlässlichen Sicherheitstest für alle europäischen Kernkraftwerke geben?
Oettinger:
Wir brauchen einen Stresstest, der alle Risiken umfasst. Naturkatastrophen wie Erdbeben oder Flutwellen müssen Teil der Prüfung sein - ebenso menschliches Versagen und Verbrechen. Atomkraftwerke müssen auch Computerangriffen und Terror mit Flugzeugen standhalten.
Können Sie alle EU-Staaten von einem strengen Test überzeugen?
Oettinger:
Wir sind auf gutem Weg.
Die Kernenergie gilt als Brückentechnologie. Wird Europa tatsächlich einmal ohne Atomkraft auskommen?
Oettinger:
Technisch ist das möglich, politisch habe ich meine Zweifel. Atomstrom wird es in Europa noch viele Jahrzehnte geben. 14 Mitgliedstaaten nutzen die Kernkraft, 13 tun es nicht. Während Deutschland aussteigen will, baut Polen sein erstes Atomkraftwerk.
Die Bundesregierung hat eine Ethikkommission eingesetzt, die empfiehlt, spätestens 2021 aus der Kernenergie auszusteigen. Ein realistisches Ziel?
Oettinger:
Der Abschlussbericht der Ethikkommission liegt noch nicht vor. Ich bin davon überzeugt, dass Deutschland in der ersten Hälfte des nächsten Jahrzehnts vollständig aus der Kernkraft aussteigen wird. Aber wir müssen die Energiewende sorgfältig planen. Windkraft kann Atomkraft so schnell nicht ersetzen. Ein überhasteter Umstieg kann zu Versorgungsschwierigkeiten bis hin zu großen Stromausfällen führen.
Jürgen Großmann, Vorstandsvorsitzender des Energiekonzerns RWE, warnte im Hamburger Übersee-Club, mit einer hastigen Energiewende werde die Industriestruktur aufs Spiel gesetzt ...
Oettinger:
Diese Sorge teile ich. Die Energiewende darf unsere Industrie nicht gefährden. Der Strompreis in Deutschland ist der zweithöchste in der Europäischen Union. Nur die Dänen zahlen noch mehr. Wenn wir den industriellen Kern erhalten wollen, muss Strom bezahlbar bleiben. In Hamburg denke ich immer an den Aurubis-Konzern, den größten Kupferproduzenten in Europa. Die Energiekosten sind für solche Unternehmen eine Existenzfrage.
Wird die Kohlekraft eine Renaissance erleben?
Oettinger:
Sie wird im Energiemix erhalten bleiben. Kohlekraftwerke haben Zukunft, wenn es gelingt, den Ausstoß von Kohlendioxid noch weiter zu senken. Die unterirdische Speicherung von CO2 ist eine gute Lösung.
Wie teuer wird die Energiewende?
Oettinger:
Eine volkswirtschaftliche Gesamtrechnung ist schwer zu machen. Ich gehe davon aus, dass Strom in den nächsten Jahren erheblich teurer wird. Das trifft nicht nur die Wirtschaft, sondern auch Privathaushalte. Es kommt darauf an, Energiearmut zu vermeiden.
Brauchen wir Billigstrom für Ärmere?
Oettinger:
Jedenfalls wird der Staat verstärkt auf den Strompreis achten müssen, wenn er die Höhe von Sozialleistungen bemisst.
Deutschland sucht nach einem geeigneten Standort für ein Atom-Endlager - aber nur an einem Ort: Gorleben. Ist das sachgerecht?
Oettinger:
Wichtig ist, dass die Erkundung des Salzstocks in Gorleben jetzt vorankommt. Deutschland muss aufpassen, dass es in der Endlagerfrage nicht Schlusslicht in Europa wird.
Die Grünen, die jetzt in Baden-Württemberg regieren, wollen die Suche auf den Süden ausdehnen ...
Oettinger:
Da wünsche ich viel Glück! Nach allen wissenschaftlichen Erkenntnissen, die mir bekannt sind, sind die Gesteinsformationen in Baden-Württemberg für ein Endlager nicht geeignet.
Die Ethikkommission empfiehlt, hochradioaktiven Abfall so zu lagern, dass er jederzeit zurückgeholt werden kann. Ein guter Ansatz?
Oettinger:
Ja. Der Begriff des Endlagers ist irreführend. Es geht gewissermaßen um eine Tiefgarage. Wir lagern die Fässer einige Hundert Meter unter der Erde. Wenn unsere Nachfahren klüger sind und eine bessere Lagerstätte finden, können sie die Fässer wieder herausholen.
Sie werden die ersten Schritte von Grün-Rot in Baden-Württemberg genau verfolgen. Was ist Ihr Eindruck?
Oettinger:
Grün-Rot hat sehr motiviert begonnen. Ich gehe davon aus, dass diese Regierung fünf Jahre hält. Danach muss aber wieder die CDU dran sein. Ich rate meiner Partei, jetzt nicht in Depression zu verfallen.
Der neue Ministerpräsident Kretschmann stört sich an den vielen Autos in Deutschland ...
Oettinger:
Ach, wissen Sie: Regierungen kommen und gehen. Das Auto bleibt.
Herr Oettinger, Angela Merkel hat den Satz geprägt: Scheitert der Euro, scheitert Europa. Wie groß ist die Gefahr, dass es so weit kommt?
Oettinger:
Wir erleben eine Krise der öffentlichen Haushalte. Der Euro wird dann Bestand haben, wenn es gelingt, die Wettbewerbsfähigkeit Europas in allen Regionen zu sichern. Ich empfehle, die staatlichen Aufgaben drastisch zu reduzieren.
Damit treiben Regierungen ihre Bürger auf die Barrikaden. Siehe Griechenland.
Oettinger:
Die griechische Regierung ist sehr respektabel unterwegs. Die Konsolidierung des Haushalts kann in den nächsten drei Jahren gelingen. Was fehlt, sind Innovations- und Wachstumsprogramme. Wir brauchen ein europäisches Konjunkturpaket für Mitgliedstaaten, die derzeit nicht wettbewerbsfähig sind. Wir müssen neue Wertschöpfung aufbauen: im Handwerk, bei den Dienstleistungen, in der Industrie.
Und wer zahlt?
Oettinger:
Erstens müssen wir den europäischen Haushalt stärker auf solche Aufgaben ausrichten. Zweitens sind Förderprogramme öffentlich-rechtlicher Banken sinnvoll. Und drittens benötigen wir sicherlich auch die Solidarität der Mitgliedstaaten.
Ein schönes Wort für Steuererhöhungen in den reicheren Ländern.
Oettinger:
Es muss nicht zu Steuererhöhungen kommen. Ich empfehle allerdings, nicht mehr mit Steuersenkungsversprechen in den Wahlkampf zu ziehen.
Halten Sie es für ausgeschlossen, dass Griechenland die Euro-Zone verlässt?
Oettinger:
Ja.
Müssen wir noch in diesem Jahr ein weiteres Rettungspaket für Athen schnüren?
Oettinger:
Ich würde es nicht komplett ausschließen.
Sehen wir das Geld jemals wieder?
Oettinger:
Ja. Ich halte die Rückzahlung für realistisch.