Kubicki steht für FDP zur Verfügung. Liberalen-Debakel bringt 600 Menschen um ihren Job. Auch die Grünen brauchen eine neue Spitze. Wahlsiegerin Merkel: Koalitionspartner verzweifelt gesucht.
Berlin/Hamburg. Die Meinungsforscher sind ratlos, was den überraschenden Ausgang der Bundestagswahl betrifft. Die führenden deutschen Experten machen den deutlichen Sieg der Union an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) fest. Das gute Abschneiden der Union sei „nicht thematisch zu erklären“, sondern mit Merkel, sagte der Chef der Forschungsgruppe Wahlen, Matthias Jung.
Die SPD habe dagegen mit Peer Steinbrück als Herausforderer „den falschen Kandidaten für eine grundsätzlich richtige Strategie gehabt“. Soziale Themen habe Steinbrück nicht glaubwürdig vertreten und bei dem Versuch, dies zu tun, seine Wirtschaftskompetenz auf Spiel gesetzt.
Komplette Grünen-Führung tritt ab: Die Grünen Parteichefs Claudia Roth und Cem Özdemir haben mit einem Überraschungscoup die Strategie von Spitzenkandidat Jürgen Trittin durchkreuzt, nach der Wahlniederlage eine Personaldebatte hinauszuzögern. Völlig unerwartet kündigten sie am Montagmorgen gemeinsam mit dem restlichen Bundesvorstand den geschlossenen Rücktritt an. Ein Signal an Partei und Öffentlichkeit solle von dieser Maßnahme ausgehen, sagte Roth. Der einflussreiche 16-köpfige Parteirat, dem auch Trittin und Co-Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt angehören, geriet unter Zugzwang und zog sofort nach. Beide Gremien müssen nun auf einem Parteitag noch in diesem Herbst neu gewählt werden.
Damit dürfte die Strategie von Trittin und Co-Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt hinfällig sein, Zeit zu gewinnen. Unmittelbar vor den Gremien-Sitzungen am Montag hatte Trittin noch zu personellen Konsequenzen erklärt: „Das wird man in aller Seelenruhe debattieren.“
Neustart bei der FDP: Nach dem Scheitern der FDP bei der Bundestagswahl steuert der Kieler Fraktionsvorsitzende Wolfgang Kubicki eine führende Rolle in der Bundespartei an. Neuer Parteichef als Nachfolger Philipp Röslers soll der bisherige FDP-Vize und NRW-Landesvorsitzende Christian Lindner werden. Der Kieler Fraktionschef wurde in Berlin als möglicher neuer Generalsekretär genannt. Am Sonntag verpasste Kubicki (61) mit dem Scheitern der FDP an der Fünf-Prozent-Hürde auch seinen persönlichen Einzug in den Bundestag. Er stand auf Platz eins der Landesliste. Auf NDR 1 Welle Nord versicherte Kubicki am Montag, er stehe zur Verfügung, wenn es darum gehe, die Partei aus den Ruinen wieder aufzubauen. „Aber in welcher Funktion, in welcher Formation, das werden wir heute im Laufe des Tages entscheiden.“
Rücktritte im Minutentakt: Die Bundestagswahl hat für einen Erdrutsch in der politischen Landschaft in Deutschland gesorgt. Es gibt Rücktritte fast im Minutentakt: Die Grünen-Spitze will nach der Wahlniederlage den Weg für eine personelle Neuaufstellung freimachen. Parteichefin Claudia Roth habe in Absprache mit dem Co-Vorsitzenden Cem Özdemir in einer Vorstandssitzung vorgeschlagen, dass der Vorstand zurücktritt, erfuhr die Deutsche Presse-Agentur aus Parteikreisen.
FDP-Chef Philipp Rösler hat nach dem Ausscheiden seiner Partei aus dem Bundestag im Parteipräsidium seinen Rücktritt angekündigt. In dem Spitzengremium habe zudem Einigkeit bestanden, dass der gesamte Bundesvorstand zurücktreten solle.
Als Nachfolger Röslers gilt der nordrhein-westfälische Landes- und Fraktionschef Christian Lindner. Lindner sagte, er wolle neuer Bundesvorsitzender der Liberalen werden. Der 40-jährige Rösler ist bis zur Bildung einer neuen Regierung weiter Bundeswirtschaftsminister.
Auf einen Schlag haben 93 Bundestagsabgeordnete ihren Job verloren. Jeder von ihnen hatte bisher etwa drei bis Mitarbeiter, einige mit befristeter Festanstellung, andere mit 400-Euro-Verträgen. Dazu kommen die Zuarbeiter in den Wahlkreisbüros der Politiker im ganzen Land. Nach Angaben der Fraktion könnten insgesamt etwa 500 bis 600 Beschäftigte vom Scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde betroffen sein.
Mehr Migranten im Parlament: Die Zahl der türkischstämmigen Politiker im Bundestag hat sich gegenüber 2009 mehr als verdoppelt. Wie die Türkische Gemeinde in Deutschland mitteilte, haben elf Deutsch-Türken den Einzug in den neuen Bundestag geschafft. Drei von ihnen gewannen ihren Wahlkreis als Direktkandidaten, davon allein zwei in Hamburg. Aydan Özoguz (Wandsbek) und Metin Hakverdi (Harburg-Bergedorf).
Von den Bundestagsabgeordneten mit türkischem Hintergrund gehören fünf der SPD an, drei den Grünen, zwei der Linken und eine der CDU. Die meisten von ihnen kommen aus Nordrhein-Westfalen (4), gefolgt von Berlin (3), Hamburg (2), Bayern und Baden-Württemberg (jeweils 1).
Bayerns Wahlsieger für Große Koalition: CSU-Chef Horst Seehofer hat nach der Bundestagswahl eine Große Koalition als „naheliegend“ bezeichnet, ohne sich aber bereits auf ein Bündnis mit der SPD festlegen zu wollen. Er mache jetzt keine Koalitionsspekulationen, sagte Seehofer vor Beginn einer CSU-Vorstandssitzung in München
Erfolg für die ARD: Den bis in die Nacht offenen Ausgang der Bundestagswahl haben die Fernsehzuschauer offenbar mehrheitlich in der ARD gesehen. Bei den beliebtesten Sendungen belegen die ARD-Informationssendungen die Plätze eins bis sechs. Die Hauptausgabe der „Tagesschau“ wurde von 13,62 Millionen Zuschauern gesehen, das entspricht einem Marktanteil von 42,0 Prozent.
Frauenquote erfüllt: Die SPD freut sich über eine Zahl der Wahl: „Zukünftig werden von den 192 SPD-Bundestagsabgeordneten 81 Frauen und damit gut 42 Prozent die Interessen ihrer Wählerinnen und Wähler vertreten“, erklärte die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Elke Ferner.
Die ausländischen Medien überschlugen sich in ihrem Lob für die Siegerin: „Angela, die Große“, schrieb die seriöse italienische Tageszeitung „La Repubblica“ über den Triumph der deutschen Bundeskanzlerin. „Der Wahlerfolg von Angela Merkel mutet an wie eine feierliche Ovation der Nation für ihren Sieg in der europäischen Krise. Es ist ein Triumph, die Rückkehr auf das Schlachtfeld, wo sie Können und Mut unter Beweis gestellt hat... Deutschland eine Insel von Stabilität und Wohlstand, wie es das vielleicht nie zuvor gewesen ist.“
Merkel schrammte nur knapp an der absoluten Mehrheit vorbei, hat die Konkurrenz gedemütigt und wandelt auf den Spuren von Altkanzler Helmut Kohl. Ihr Name, ihre Person war das Programm – und diese Strategie ging auf.
Allerdings muss sie sich nach dem Desaster der FDP einen neuen Regierungspartner suchen. Das wird die schwierigste Aufgabe nach der Feiernacht in Berlin. Denn SPD und Grüne haben ihr bereits die kalte Schulter gezeigt. „Der Ball liegt bei ihr“, sagte SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück.
Das Ergebnis der Wahl in Hamburg
Rot-Rot-Grün möglich: SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles sagte, es laufe nicht automatisch auf eine Große Koalition zu. „Es gibt auch noch eine andere Option, die möglich ist“, so Nahles in der ARD. Die SPD muss aus Sicht ihres Landesvorsitzenden in Schleswig-Holstein, Ralf Stegner, in Zukunft auch eine Zusammenarbeit mit der Linken in Betracht ziehen. „Ich glaube es wird der letzte Wahlkampf gewesen sein, wo wir sagen, mit denen oder jenen nicht“, sagte Stegner im Deutschlandfunk.
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Schwarz-Grün denkbar: Für Gespräche mit den Grünen haben sich mehrere prominente Unionspolitiker ausgesprochen. Die saarländische Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) hat Verhandlungen zwischen CDU und Grünen über eine mögliche Koalition im Bund nicht ausgeschlossen. Die stellvertretende CDU-Vorsitzende Julia Klöckner hat Sympathien für eine Koalition mit den Grünen auf Bundesebene erkennen lassen.Dies sei eine „mögliche Variation innerhalb einer Demokratie“. Unions-Fraktionschef Volker Kauder stellt sich vor Sondierungsgesprächen mit den Grünen auf sehr gegensätzliche Positionen ein. „Mit den Grünen ist es sicher sehr schwer, mit der Steuerorgie, die sie vorgeschlagen haben“, sagte Volker Kauder in der ARD.
Die Wirtschaft grollt: In der deutschen Wirtschaft wurde das Ausscheiden der FDP aus dem Bundestag bedauert. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) hat aber bereits seine Erwartungen an eine neue Bundesregierung vorgelegt: „Drei Kernthemen müssen umgehend angepackt werden: eine Reform der Energiewende, der Anschub einer Investitionsoffensive sowie die Vertiefung der Währungsunion“, erklärte BDI-Präsident Ulrich Grillo.
Nach der Bundestagswahl sind die Kurse an der Deutschen Börse in Frankfurt am Montagmorgen zunächst ins Minus gedreht. Der Deutsche Aktienindex (Dax) notierte in der ersten Stunde nach Handelsbeginn zeitweise bei 8655,24 Punkten und damit 0,24 Prozent tiefer als zu Börsenschluss am Freitag. Der Euro hat sich etwas fester gegenüber dem Dollar gezeigt. Am Montagmorgen wurden für einen Euro 1,3541 Dollar gezahlt, 0,1 Prozent mehr als am Freitag.
Erfolg im Südwesten stärkte Union: „Wir freuen uns irre“, sagt die Partei-Vize Ursula von der Leyen. Denn abgesehen von dem persönlichen Erfolg Merkels hat die Union in dieser Abstimmung ein zweites Ziel erreicht, wovon viele in der CDU selbst vor dem Sonntag nur geträumt hatten – dass sie wieder eine wirkliche Volkspartei werden kann, die wie die CSU in Bayern Ergebnisse über 40 Prozent der Stimmen erzielt. Offenbar lag die CDU etwa in Baden-Württemberg am Sonntag bei rund 47 Prozent.
Endergebnis: Das vorläufige amtliche Endergebnis sieht die CDU/CSU 41,5 Prozent, die SPD bei 25,7, die FDP bei 4,8, die Linke bei 8,6, Grüne bei 8,4 und die AfD bei 4,7 Prozent. Die Piraten kamen auf 2,2 Prozent.
Rot-Rot-Grün liegt zwar vor der erstarkten Union. Ein solches Bündnis wird aber von der SPD abgelehnt. Realistischste Regierungsoption in Berlin ist nun die große Koalition.
Los aus dem Ausland: Nach dem triumphalen Abschneiden der Union hat die internationale Presse Bundeskanzlerin Merkel ausführlich gewürdigt. Die US-Tageszeitung „New York Times“ attestierte der Regierungs- und Parteichefin eine „klare Bestätigung ihrer Führungsstärke“. Merkel habe „einen erstaunlichen persönlichen Triumph“ erzielt.
Auf den Internetseiten der spanischen Zeitungen war das Wahlergebnis in Deutschland das Hauptthema. Das Abschneiden der Union sei „beispiellos seit den Tagen von Kanzler Konrad Adenauer vor 50 Jahren“, schrieb „El País“.
In Großbritannien griff die „Daily Mail“ ebenfalls zum historischen Vergleich und bezeichnete Merkel als „Deutschlands Margaret Thatcher“ – die „Eiserne Lady“ hatte Großbritannien von 1979 bis 1990 regiert.
Die größte polnische Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ erklärte, die CDU habe dank einer komplett auf Merkel zugeschnittenen Wahlkampagne die anderen Parteien „vernichtet“. Die Kanzlerin sei „die einzigartige Marke“ ihrer Partei.
Kritik an Trittin: Die Grünen diskutieren nach dem schwachen Wahlergebnis offen über die Schuldfrage. Der Grünen-Europaabgeordnete Werner Schulz machte Spitzenkandidat Jürgen Trittin für das Ergebnis verantwortlich. „Trittin hat sich zu Lasten der Grünen profiliert, hat die Finanzpolitik im Wahlkampf in den Vordergrund geschoben, weil er unbedingt Finanzminister werden wollte“, sagte Schulz der „Bild“-Zeitung.
Wichtige Grünen-Themen wie der Klimawandel und die Energiewende seien dabei sträflich vernachlässigt worden. „Dafür haben wir jetzt die Quittung erhalten.“ In den Bundesländern formiert sich eine Front von starken Grünen, die das Führungsquartett um Trittin, Claudia Roth, Renate Künast und Cem Özdemir ablösen könnte.