Die Petersberg-Konferenz vor zehn Jahren sollte Afghanistan Frieden bringen. Aber jetzt könnte neuer Bürgerkrieg drohen. Was ist schiefgelaufen?
Dieser Satz ..." Peter Struck zündet sich noch eine Pfeife an. Er saugt zweimal an dem Mundstück, der Duft von Ahorn und Rum erfüllt den Raum. "Dieser Satz wird mir mein Leben lang anhängen." Es war auf einer Pressekonferenz im Jahr 2002. Ein Journalist der "FAZ" hatte den damaligen Verteidigungsminister Struck gefragt: Ist das überhaupt mit dem Grundgesetz vereinbar, dass die Bundeswehr in Afghanistan ist? Struck knurrte: "Deutschlands Sicherheit wird auch am Hindukusch verteidigt." Die Teilnehmer der Pressekonferenz horchten auf. Sollte Deutschland für seine nationale Sicherheit weltweit Krieg führen dürfen?
"Aus damaliger Sicht" sei der Satz wegen der Terrorbedrohung der al-Qaida in Afghanistan richtig gewesen, sagt der SPD-Politiker heute. An Krieg habe er gar nicht gedacht. Struck pafft noch mal. "Damals war unser Ziel ganz klar und begrenzt: Wir gehen nach Kabul und schützen Karsai, damit er von da aus in die Lage versetzt wird, das Land zu regieren und zu stabilisieren."
+++Fausia Kufi: "Viele unserer Politiker wollen nur Stillstand"+++
Jener Hamid Karsai war auf der ersten Afghanistan-Konferenz auf dem Bonner Petersberg zum Präsidenten der neuen afghanischen Übergangsregierung ernannt worden. Der Führer des paschtunischen Popalsai-Clans hatte als Politiker gegen die Taliban gekämpft. "Karsai hatte uns versprochen, dass er auch mit den Stämmen klarkäme und wir in wenigen Jahren wieder rauskönnten", erinnert sich Struck. Dass die Afghanen sich seit drei Jahrzehnten mit Krieg und Diktatur besser auskannten als mit Frieden und Demokratie, schien nicht entscheidend. "Aus heutiger Sicht", räumt der Ex-Minister im Abendblatt ein, "war unsere Herangehensweise wohl naiv."
Kurz vor der Afghanistan-Konferenz sagt Karsai nun dem "Spiegel", die internationale Staatengemeinschaft müsse sein Land bis mindestens 2024 mit Milliardenhilfen unterstützen. Das Geld werde für den weiteren Aufbau der Armee, der Polizei und der staatlichen Institutionen benötigt, sagte Karsai. Er hofft auch auf militärische Hilfe aus Deutschland nach dem Abzug der Truppen 2014: "Aus unserer Sicht könnte die Bundeswehr für immer bleiben."
Heute tagt die Petersberg-Konferenz zum zehnten Mal. Und noch immer steht die Bundeswehr in Afghanistan. Bis 2014 wird der Einsatz die Bundesrepublik voraussichtlich 22 Milliarden Euro gekostet haben. 56 deutsche Soldaten und Polizisten sind am Hindukusch gefallen, immer wieder werden Bundeswehr-Angehörige zum Ziel von Attentaten. Gleichzeitig sind die Taliban mächtiger als vor einem Jahrzehnt, Korruption und Drogenhandel blühen weiterhin. Wie konnte es so weit kommen? Was ist schiefgelaufen?
Lesen Sie dazu auch:
Folgt man Peter Struck, dann muss der Weg in den Krieg am Hindukusch einem Flug durchs Gebirge bei Nebel geglichen haben: Man wagte sich immer tiefer hinein, weil man den Weg hinaus nicht mehr fand. Begonnen hatte dieser Flug ins Unbekannte bereits ein halbes Jahr vor Strucks Satz. Unter dem Eindruck der Anschläge des 11. September hatte der Bundestag im November und Dezember 2001 beschlossen, dass sich Deutschland an dem US-Militäreinsatz beteiligen solle. Die Lage schien überschaubar: Die Vereinten Nationen hatten den Einsatz abgesegnet, die Taliban waren durch die Angriffe der afghanischen Nordallianz und der Amerikaner in die Flucht geschlagen worden.
Geradezu winzig ist damals das erste deutsche Kontingent: Gut 600 Soldaten richten sich seit Februar 2002 im "Camp Warehouse" ein, einer alten Garnison in Kabul. Leicht bewaffnet patrouillieren sie durch die Stadt. Als Struck die Truppe besucht und durch Kabul und Kundus schlendert, hält niemand eine schusssichere Weste für den Minister für nötig. "Einen Anschlag haben wir damals nie gefürchtet", sagt Struck. Im November 2002 beträgt die Stärke von Isaf 4650 Mann in einem Land mit 652 225 Quadratkilometern - im Kosovo (10 908 Quadratkilometer) waren bis zu 50 000 Kfor-Soldaten.
Die Gefahr wird unterschätzt. Am 7. Juni 2003 sprengt sich ein Selbstmordattentäter neben einem Bundeswehrbus in die Luft. Das Fahrzeug ist ungepanzert. Vier Soldaten werden von der Bombe getötet, 29 weitere zum Teil schwer verletzt. Eine Schlüsselszene sei das für ihn gewesen, sagt Struck heute. "Da wurde mir klar, dass Afghanistan ein richtig schwerer Job werden wird."
Dann tritt Struck vor die Mikrofone und sagt, dass man trotzdem eine Ausweitung des Einsatzes prüfe. Wenig später teilen die Mitglieder der International Security Assistance Force (Isaf) Afghanistan in vier Regionen auf. Deutschland erhält den Norden, der zu dieser Zeit noch als ruhig gilt.
Jetzt wird den Deutschen klar, dass Afghanistan ihnen mehr abverlangt als ein Gastspiel von Hauptstadtpolizisten. Und Regierungsmitgliedern wie Struck dämmert: "Karsai hat keine politische Gewalt über das Land. Er genießt auch kein Vertrauen in der Bevölkerung, weil sein Bruder in den Drogenhandel und seine Regierung in Korruption verwickelt ist."
Anfang 2004 sickern immer mehr Taliban aus Pakistan zurück nach Afghanistan, um sich dort neu zu formieren. Die Grenze zwischen den Ländern zieht sich durch eine zerklüftete Bergregion und ist kaum zu überwachen. Einigen Aufständischen geht es um den Kampf gegen die ungläubigen Besatzer, andere interessieren sich mehr für den Anbau von Mohn, dem Rohstoff für die lukrative Heroinproduktion.
Seit 2010 ist der deutsche Vier-Sterne-General Egon Ramms im Ruhestand. Aber seine Analyse klingt immer noch so knapp und präzise, als würde er sich gerade über den Kartentisch eines Gefechtsstandes beugen. "Ab 2004 hätte man erkennen können, dass es sich im Süden Afghanistans in die falsche Richtung entwickelte. Ab 2006 deutete sich an, dass sich diese Entwicklung auch in andere Landesteile ausbreitete", sagt Ramms.
Als Kommandeur des Allied Joint Command im holländischen Brunssum war er von 2007 bis 2010 Oberkommandierender aller Nato-Truppen in Afghanistan. Seit 2007 registrierten die Militärs, dass ihre Gegner auch im Norden stärker Fuß fassten. Immer häufiger wurden die Bundeswehrangehörigen dort zum Ziel von Angriffen oder Sprengfallen. "Wir haben im Herbst 2008 vor den Entwicklungen im Norden gewarnt und die uns bekannten Erkenntnisse an Deutschland gemeldet. Es ist damals keine Reaktion erfolgt." Die Politik habe den Auslandseinsatz als Friedensmission besser verkaufen können, glaubt Ramms. "Aber spätestens 2006, als sich die Lage in Afghanistan verschlechtert hat, hätte die Politik der Bevölkerung die Wahrheit sagen müssen, nämlich dass es sich um einen Kampfeinsatz handelt."
Deutschland tat sich schwer mit der Bezeichnung "Krieg". Erst Anfang 2010 spricht der junge Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg das K-Wort aus. Aus den ehemals 600 Soldaten sind da schon 4500 geworden. Heute, Ende 2011, sind es 5350. Mittlerweile sieht der heutige Verteidigungsminister Thomas de Maizière eine "vorsichtige Trendwende" in der Sicherheitslage erreicht. Nicht jeder scheint diese Interpretation zu teilen. So zog beispielsweise die EU vor Kurzem den Großteil ihrer Mitarbeiter aus Sicherheitsgründen aus Kabul ab.
Würde ein massiverer Militäreinsatz die Lösung bringen? Nein, sagt Ramms. "Der Militäreinsatz kann nur 20, 25 Prozent der Probleme - die Sicherheitsprobleme - lösen. Um die anderen 75 bis 80 Prozent, also den Wiederaufbau Afghanistans, haben wir uns in den letzten Jahren zu wenig gekümmert." Man habe Straßen gebaut, obwohl kaum ein Afghane ein Auto besitze. "Die Bevölkerung muss aber erleben und begreifen, dass es für sie Fortschritte gibt: bei der Gesundheitsversorgung, der Energieversorgung, der Versorgung mit Trinkwasser und Lebensmitteln."
Ausgerechnet der Ex-Militär meint, dass der Westen auch mit den Aufständischen verhandeln müsse. Denn viele Taliban seien nur arme Landwirte, die sich als Kämpfer einen Zuverdienst sichern. Diese "Taliban im Nebenjob" könne man durch Hilfe bei ihrem Lebensunterhalt für sich gewinnen. Doch vor Gesprächen mit den Rebellen sind viele westliche Politiker jahrelang zurückgeschreckt. Wie geht es weiter mit Afghanistan?
Auf dem Petersberg werden ab heute 65 Außenminister und rund 900 weitere Teilnehmer darüber beraten - ohne dem Land nach zehn Jahren Frieden schenken zu können. Ein großes Manko ist, dass Pakistan die Konferenz boykottiert. Das einflussreiche Nachbarland reagiert damit auf einen irrtümlichen Angriff amerikanischer Truppen auf einen pakistanischen Grenzposten.
Glaubt man Struck und Ramms, dürfte aber auch die Ankündigung der Nato, bis 2014 alle Kampftruppen aus Afghanistan abziehen zu wollen, fatale Auswirkungen auf die Sicherheit im Land haben. Peter Struck, dessen Partei im Bundestag für den Rückzug gestimmt hat, sagt: "Die Ankündigung des Abzugs ist politisch gesehen wohl unumgänglich, ich halte sie aber militärisch für einen Fehler." Die Taliban müssten jetzt nur noch abwarten. Die Staatengemeinschaft müsse die afghanische Armee und Polizei in die Lage versetzen, die Sicherheit des Landes zu gewährleisten. "Was Deutschland und die EU beispielsweise bei der Polizeiausbildung leisten, ist einfach noch zu wenig", warnt Struck.
Der Westen müsse aus einer Position der Stärke mit den Taliban verhandeln, fordert Ex-General Ramms. "Deswegen bereitet mir die Ankündigung des internationalen Truppenabzugs so große Sorgen. Die Ankündigung führt auch dazu, dass wir keine Unterstützung mehr von Afghanen erhalten, weil sie die Rache der Taliban fürchten, sobald die Isaf-Truppen abgezogen sind." In Gebieten, aus denen sich US-Marines zurückgezogen hätten, seien Kinder erhängt worden, weil die Taliban Dollarnoten in ihren Taschen gefunden hätten.
Ein Bericht der "Bild" scheint schlimmste Befürchtungen zu bestätigen. Darin zitiert die Zeitung aus einem US-Militärbericht über Nordafghanistan: "Wenn die Isaf-Truppen das Land verlassen, wird es Bürgerkrieg geben."