Drei Tage war die Frau des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo verschwunden. Nun spricht Liu Xia - stets beobachtet von der chinesischen Polizei.
Hamburg. "Wei"- mit einem etwas lang gezogenen "Hallo" meldet sich eine vertraute Stimme am Mobiltelefon. Sie gehört Liu Xia, der 49-jährigen Frau des neu gewählten Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo, die drei Tage verschwunden war. Genau genommen seit Freitagnachmittag 17 Uhr. Da erfuhr Peking um sechs Stunden zeitversetzt, dass in Oslo der chinesische Häftling Liu Xiaobo den hohen Preis erhalten hatte.
Liu Xia hatte nicht daran geglaubt. Aber sie hatte noch am Mittag gesagt, dass sie im Fall des Falles am Tor vor ihrem modernen Apartmentblock Yuyuantan Nanlu in der Weststadt sich mit Journalisten treffen wollte. Daraus wurde nichts. In ihrer Wohnung nistete sich zivile Polizei ein, zwang sie zum Packen. Ihr Mobiltelefon war plötzlich tot. "Abgestellt", sagte eine Tonbandstimme. Dann endete der direkte Kontakt mit Liu Xia.
"Wei": Da war sie wieder. Beim Anruf der "Welt" meldet sich aber nicht nur Liu Xia. Auch laute Männerstimmen sind zu hören. Sie sitze im Polizeiwagen, sagt sie mit unbekümmerter, fester und klarer Stimme. Einst war sie eher piepsig, eine introvertierte Fotokünstlerin und Malerin, die sich nicht im Traum vorstellen konnte, als Aktivistin die Sache ihres Mannes vertreten zu müssen. Alles wurde anders, als Liu Xiaobo im Dezember 2008 von der Polizei verschleppt wurde, weil er das Freiheitsmanifest "Charta 08" in Umlauf brachte, für das er dann Weihnachten 2009 elf Jahre Haft erhielt. Liu Xia wuchs in ein neues Leben hinein. Die vorne im Wagen sitzenden Zivilbeamten können sie nicht schrecken. "Ich stehe weiter unter Hausarrest , darf keine Journalisten treffen und kann nur in Begleitung der Polizei einkaufen gehen", sagt sie. Was sie nun gerade tue. Sie werde zum Gemüseeinkauf gefahren. Seit Montagabend verfüge sie wieder über ein Mobiltelefon, nachdem ihre alte Nummer abgeschaltet war. Die Polizisten redeten ihr zu laut. "Ruf doch später an." Tatsächlich, sie geht eine Stunde später ans Telefon, als sie wieder zu Hause ist, wo vor dem Tor ein halbes Dutzend Polizeiaufpasser niemanden zu ihr durchlässt.
Sie war nicht verschollen. Die Polizei kutschierte sie am Sonnabend zum 470 Kilometer entfernten Gefängnis. Am Sonntag darf sie dort ihren Mann zum einstündigen Gespräch sehen. Diesmal haben sie Freudentränen über die Auszeichnung in den Augen. Es ist ein Preis für seinen 20-jährigen gewaltlosen Einsatz für die Demokratisierung Chinas. Liu Xiaobo, 54, sagt, dass dieser Preis den "Seelen der Opfer" des Pekinger Massakers vom 4. Juni 1989 gewidmet ist. Dann bittet er sie nach Oslo zu fahren, um den Nobelpreis am 10. Dezember für ihn entgegenzunehmen. Sie sagt: "Ich möchte natürlich nach Oslo fahren. Aber das wird wahrscheinlich unmöglich sein."
Die Schikanen, die sie seit Freitag erlebt hat, kümmern sie nicht: "Es ist nicht das erste Mal, dass ich das mitmache." Überwältigt sei sie jedoch vom Zuspruch, den ihr Mann erfährt: Am Montagabend, als sie ihr neues Mobiltelefon erhält, kommt ein Pekinger Sprecher der Europäischen Union durch. Sie hört, dass Kommissionspräsident José Manuel Barroso und Außenbeauftragte Catherine Ashton zum Nobelpreis gratuliert haben. Sie weiß auch von einem Schreiben des deutschen Bundespräsidenten, kennt aber noch nicht den Inhalt. Sie wolle sich bei allen bedanken.
Auf die Frage, wie sie ihre Zukunft sieht, meint sie, dass die Lage, "in der wir uns jetzt befinden, nicht lange so anhalten kann". Ein paar kleine Anzeichen gibt es dafür. Beim Besuch im Gefängnis hörte sie von ihrem magenkranken Mann, dass er von der Bekanntgabe des Preises schon vor ihrem Besuch erfahren hat. Er sei sofort besser behandelt worden. Er habe einen Elektroofen gestellt bekommen, um sich seine Speisen aufzuwärmen, und das Essen sei auch besser geworden. Beim Abschied sagt ihr die Gefängnisverwaltung, dass sie weiter normales Besuchsrecht habe.
Liu Xia hofft, dass eine "vernünftig und rational handelnde Regierung" sich bewusst werden wird, wie kontraproduktiv ihre Reaktion bisher sei. "Sie hat diese Lage verursacht und muss die Lösung verantworten. Sie wird die Realitäten über kurz oder lang akzeptieren." Es wird wohl "eher lang". Gestern Abend ist Liu Xias neue Telefonnummer nach kaum 20 Stunden Betrieb plötzlich wieder tot. Und wieder sagt eine Tonbandstimme: "Abgestellt".
Peking denkt vorerst nicht daran, Liu Xiaobo oder seine Frau nach Oslo reisen und den Preis entgegennehmen zu lassen. Der Sprecher des Außenministeriums Ma Zhaoxu weist in Peking jedes solches Ansinnen brüsk zurück: Die Vergabe des Friedenspreises an einen verurteilten Häftling zeige die "Respektlosigkeit des Nobelpreiskomitees für Chinas Rechtsprechung. Auf die Frage, ob Peking Liu Xia, die ja nicht straffällig geworden sei, nun nach Oslo reisen lasse, sagt Ma: "Ich kenne diese Person nicht. " Weitere Nachfragen blockt er ab. Er rechtfertigt auch Chinas Zorn auf Norwegen für die Entscheidung des Nobelpreiskomitees: "Die norwegische Regierung hat die falschen Handlungen des Komitees unterstützt und damit die bilateralen Beziehungen verletzt. China und seine Bevölkerung haben Grund, ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck zu bringen."
Außenamtssprecher Ma weicht Fragen aus, ob sich China nun auch gegen die USA und alle anderen Staaten wende, die Liu Xiaobo gratuliert haben: "Wenn jemand auf diese Weise Chinas politisches System ändern will oder China daran hindern will, voranzuschreiten, dann hat er sich verrechnet."