Noch herrscht Unklarheit über den Verbleib der Besatzung. Die EU-Kommission sieht die Entführung inzwischen als “Stoff für einen Hollywood-Film“ an.
Hamburg. Die Verwirrung um den am Montag befreiten finnischen Holzfrachter "Arctic Sea" hält an: Acht mutmaßliche Entführer des unter maltesischer Flagge fahrenden 4000-Tonnen-Schiffs seien verhaftet worden, sagte der russische Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow gestern. Die "Arctic Sea" und ihre 15-köpfige russische Besatzung waren 300 Seemeilen vor den Kapverden im Atlantik von der russischen Schwarzmeerflotte befreit worden. Vier Esten, zwei Letten und zwei Russen hätten das in schwedischen Gewässern befindliche Schiff in der Nacht auf den 24. Juli überfallen, so Serdjukow. Mit einem Schlauchboot hätten sie sich dem mit Holz im Wert von einer Million Euro beladenen Frachter genähert und unter dem Vorwand, in Seenot zu sein, die Besatzung um Hilfe gebeten. Dann hätten sie die Crew gezwungen, Kurs Richtung Afrika zu nehmen und alle Funkgeräte auszuschalten.
Strittig ist, ob man bei dem Überfall überhaupt von Piraten sprechen kann. Nach Ansicht des Verbands deutscher Reeder ist diese Bezeichnung missverständlich: "Wir nehmen an, dass es sich bei diesem Angriff um einen Einzelfall handelt", sagte Verbandssprecher Max Johns dem Abendblatt. Der Begriff Piraten sei "zu weit gefasst". Johns betonte: "Nach unserer Einschätzung handelte es sich dabei um einen gezielten Angriff auf dieses eine spezielle Schiff." Piraten in den Gewässern vor Somalia würden dagegen ungezielt Schiffen auflauern, um Beute und Lösegeld zu machen. "Wir gehen nicht davon aus, dass es Piratenüberfälle in der Ostsee gibt - die letzten Vorfälle dieser Art sind wohl zuletzt vor einigen Jahrhunderten geschehen."
Tatsächlich sind Piratenangriffe in westeuropäischen Gewässern schwer vorstellbar. Frachter fahren meist auf festgelegt und quasi autobahnähnlichen Schiffsrouten - ständig überwacht durch automatische Identifikationssysteme und Radar. Auch ein regelmäßiger Funkkontakt mit Küstenwachen oder Lotsenstationen ist üblich. Jede Änderung von üblichen Bewegungen würde da auffallen. In Kreisen der maritimen Wirtschaft wird darüber spekuliert, ob mit dem Schiff Waffen oder Drogen geschmuggelt werden sollte. Dafür spreche, dass das Schiff von seiner Route abgewichen sei, das Ortungssystem abgeschaltet wurde und der Kurs offensichtlich Richtung Westafrika verlief, wo es viele Krisenherde gibt. Möglicherweise sei der Transport im Auftrag von Hintermännern geschehen und die Crew gewaltsam zur Kursänderung gezwungen worden. Vielleicht handelte es sich auch um einen Streit zwischen rivalisierenden Banden, so eine der vielen Spekulationen.
Zumindest meldete die Versicherung der "Arctic Sea", dass es eine Lösegeldforderung gegeben habe. "Am 3. August ging von Unbekannten eine englischsprachige Forderung über die Zahlung von 1,5 Millionen US-Dollar ein, sonst erschieße man die Besatzung und versenke das Schiff", sagte Wladimir Duschin von der Gesellschaft Renaissance Insurance. Ob Lösegeld gezahlt wurde, sagte er nicht. Auch das Verhalten der russischen Behörden bringt kaum Licht ins Dunkel. Angehörige der geretteten Seeleute und die Seefahrergewerkschaft beklagten, dass der Geheimdienst den persönlichen Kontakt verhindere. "Ich weiß bisher nur aus den Nachrichten von der Befreiung", sagte Jelena Sarezkaja, die Frau des "Arctic Sea"-Kapitäns Sergej Sarezki.
Über den Verbleib der Männer machte das russische Verteidigungsministerium zunächst keine Angaben. Die Strafverfolgungsbehörden von 20 Staaten befassen sich mit dem Fall, so ein Sprecher der EU-Kommission. "Die Details werden ganz sicher eines Tages der Stoff eines Hollywood-Films sein."