Berlin. Nach dem Anschlag laufen die Debatte über die Folgen – und die Versuche, jetzt unterzubringen, was man immer schon wollte.

Der Anschlag von Magdeburg trifft das Land in einer ohnehin nervösen Zeit. Die Regierung nur geschäftsführend im Amt, die Stimmung in Wirtschaft und Bevölkerung besorgt, der Wahlkampf kurz und voraussichtlich hart. Das war die Ausgangslage schon vor Freitagabend, bevor Taleb A. sich ins Auto setze und bei seinem Attentat auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt fünf Menschen tötete und rund 200 weitere verletzte.

In die Trauer und das Entsetzen über die Tat mischen sich wenige Tage danach immer mehr drängende Fragen: Wie konnte das passieren? Welche sicherheitspolitischen Folgen muss der Anschlag haben? Und wie werden die Ereignisse vom Freitagabend den Bundestagswahlkampf verändern?

Am Montag ist vieles noch immer offen. Spitzenpolitiker und -politikerinnen der demokratischen Parteien bemühten sich nach dem Anschlag, einen angemessenen Ton zu treffen und nicht in Verdacht zu geraten, die Ereignisse zu instrumentalisieren. Und doch war einem Teil der Wortmeldungen zu Beginn der Woche anzumerken, dass es zwei Monate vor der Bundestagswahl auch um Sichtbarkeit und Profilierung geht.

Innenminister Faeser fordert mehr Befugnisse für die Sicherheitsbehörden

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) meldete sich zu Wort und sprach sich vor dem Hintergrund des Anschlags für mehr Befugnisse und Personal für die Sicherheitsbehörden aus. Konkret erinnerte Faeser an Gesetzänderungen, die in der Ampel-Koalition schon diskutiert, aber nicht beschlossen worden waren, etwa das neue Bundespolizeigesetz, oder die Einführung biometrischer Überwachung. „All diese Gesetzentwürfe von uns könnten sofort beschlossen werden, wenn Union und FDP sich dem nicht verweigern“, sagte die Ministerin.

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Bundesjustizminister Volker Wissing (parteilos) nannte die Äußerungen von A. „so wirr, dass kein sicherheitsbehördliches Schema auf ihn passte“. Er halte es für möglich, dass man daraus Konsequenzen für die Sicherheitsarchitektur ziehen müsse, sagte Wissing. „Und ich halte es für geboten, dass wir darüber eine ernsthafte Debatte führen.“

Alexander Throm, innenpolitischer Sprecher von CDU und CSU, wies die implizite Aufforderung Faesers zurück, den Vorschlägen der Regierung zuzustimmen, und warf der Ministerin vor, „nur eine Scheinlösung“ auf den Tisch zu legen. Die Forderungen der Union seien klar, sagte er dieser Redaktion: eine „angemessene“ Speicherfrist für IP-Adressen, automatisierte und Echtzeitgesichtserkennung, der Einsatz einer verfahrensübergreifenden Recherche- und Analyseplattform zur besseren Datenauswertung und mehr Möglichkeiten für die Behörden im Bereich der Online-Durchsuchung und der Telekommunikationsüberwachung.

Grünen-Innenexperte von Notz: „kein Defizit an Durchgriffsoptionen“

Was diese Maßnahmen im konkreten Fall geändert hätten, ist laut Konstantin von Notz, Innenexperte und stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Grünen, allerdings unklar. „Die Behörden haben ja offenbar nicht mal die öffentlichen Tweets dieses Mannes gelesen“, sagte er dieser Redaktion. „Man hat hier kein Defizit an Durchgriffsoptionen, man hat ein Handlungsdefizit.“ Wie man als Reaktion auf den Anschlag nun „wieder mit der Vorratsdatenspeicherung um die Ecke kommen will“, erschließe sich ihm deshalb wenig.

„„Die Behörden haben ja offenbar nicht mal die öffentlichen Tweets dieses Mannes gelesen““

Konstantin von Notz, Vize-Fraktionschef der Grünen im Bundestag

Von Notz sieht ein mögliches Problem in diesem Fall in den föderalistischen Strukturen der Behörden: „Wenn der zuständige Staatsanwalt in Magdeburg am Tag nach der Tat noch nie davon gehört hat, dass es gegen diesen Mann in anderen Bundesländern schon Verfahren gab, dann haben wir offensichtlich auch ein Problem mit dem Teilen und Zusammenführen von Informationen“, sagte der Grünen-Politiker. Es könne nicht sein, dass es einem Täter zum Vorteil gereicht, wenn er seine Aktivitäten auf mehrere Bundesländer verteilt.

Von Notz setzt darauf, dass es auch im Wahlkampf möglich sein wird, eine sachliche Diskussion über Sicherheitspolitik zu führen – auch wenn niemand die AfD davon abhalten werde, „mit rassistischem Wahnsinn auf diese Situation zu reagieren und die Ausweisung von ausländischen Ärzten oder Ähnliches zu fordern“.

AfD: Alice Weidel versucht, die Debatte in Richtung Migration zu lenken

Tatsächlich versucht die in Teilen rechtsextreme Partei, aus einer sicherheitspolitischen Debatte um den Anschlag eine Debatte über Zuwanderung zu machen: Die Diskussion über Sicherheitsgesetze dürfe „nicht davon ablenken, dass Magdeburg ohne unkontrollierte Zuwanderung nicht möglich gewesen wäre“, schrieb Parteichefin Alice Weidel am Montag auf X (ehemals Twitter). Sie verlangte eine restriktive Migrationspolitik und „konsequente“ Abschiebungen. Eine Forderung, die vielleicht auch Taleb A. unterstützen würde – schließlich teilt der Mann aus Saudi-Arabien nach derzeitigem Kenntnisstand die Position der Partei zu einer drohenden „Islamisierung“ Europas und verbreitete immer wieder auch Beiträge von Weidel selbst.

Was der Anschlag für den Fortgang des Wahlkampfs bedeutet, sei noch offen, sagt Wolfgang Schroeder, Politikwissenschaftler von der Universität Kassel – auch, weil der Täter in kein bekanntes Schema passe. Normalerweise gebe es in derartigen Situationen einen strukturellen Vorteil für diejenigen Politiker und Politikerinnen, die sichtbar seien und ihre Sache gut machen. „Dieser Fall aber ist sehr komplex, die Lage ändert sich fortwährend“, sagt Schroeder. „Es gibt heute eher nicht die gleiche Wirkung wie 2002, als Gerhard Schröder mit Gummistiefeln in der Elbe stand und signalisierte, dass er anpackt.“

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Am Montagabend trat Alice Weidel auf einer AfD-Kundgebung auf dem Magdeburger Domplatz auf. Sie sagte, nach der Zeit der Trauer komme die Zeit der Aufarbeitung. Mit Blick auf den Täter sagte sie, wer die Bürger des Landes verachte, das ihm Asyl gewähre, „der gehört nicht zu uns“. Während der Veranstaltung wurde immer wieder „Abschieben! Abschieben! Abschieben!“ skandiert.

Parallel versammelten sich rund 4000 Menschen rund um den Alten Markt, wo sich am Freitag der Anschlag ereilt hatte, und bildeten eine Menschenkette. Die Menschen standen teils in dichten Trauben beieinander. Sie trugen Kerzen in den Händen, applaudierten Rettungskräften und riefen ihnen „Danke“ zu. „Das sind Lichter für eine weltoffene Stadt“, sagte Oliver Wiebe von der Initiative „Gib Hass keine Chance“. Man sei zum Trauern und Gedenken zusammengekommen. (mit gau, tki, dpa)