Magdeburg. Am Tag nach der Tat befindet sich die Magdeburg in einer Art Schockstarre. Einwohner zeigen sich erschüttert. Eindrücke von vor Ort.
An einzelnen Buden auf dem Weihnachtsmarkt in Magdeburg brennt noch Licht, Stimmen der Besucher und Musik sind seit Freitagabend jedoch schlagartig verstummt. Auf dem betonierten Boden liegen an diesem Samstagvormittag Wärmedecken, Einmalhandschuhe und Servietten. Es ist still. Aus dem Ort des Friedens ist ein Ort des Terrors geworden. Und die Schneise der Verwüstung lässt nur erahnen, welch dramatische Minuten sich abends zuvor zugetragen haben müssen, als der mutmaßliche Täter Taleb A. mit einem Mietwagen in die Gassen des Marktes fuhr, um Menschen zu töten und zu verletzen.
Magdeburg, die sonst durchaus lebendige Landeshauptstadt Sachsen-Anhalts befindet sich seitdem in einer Art Schockstarre. Anwohner und Geschäftsleute sind erschüttert. Politiker kondolieren und versuchen, die richtigen Worte zu finden, auch gegenüber den Einsatzkräften, die so viele Menschen erstversorgen mussten.
Anschlag in Magdeburg: „Es war ein grauenhaftes Bild“
Am Morgen ist Bernd Kryk an den Ort zurückgekehrt, den er abends zuvor noch mit seiner Frau besucht hatte. Kryk hat Blumen dabei, die er in einer Vase an einen lichterbeleuchteten Torbogen im Eingangsbereich des Weihnachtsmarktes stellt. Der Magdeburger schafft es kaum, Worte für das zu finden, was geschah. „Es war ein grauenhaftes Bild“, sagt Kryk.
Er selbst habe wohl „einfach Glück“ gehabt, mutmaßt der 62-Jährige. Alles sei sehr schnell gegangen. Kryk aber habe genau gesehen, wie das Auto beschleunigte und dann in eine Personengruppe fuhr, die an einer Bude stand. „Da war ein Mann, der durch die Luft geschleudert wurde, dann auf dem Boden lag und stark am Kopf blutete“, erinnert er sich. Gemeinsam mit einigen Mitarbeitern von umliegenden Ständen leistete er erste Hilfe.
Täter soll Lücke zwischen Betonpollern genutzt haben
Der Täter, der bei seiner Amokfahrt über den Weihnachtsmarkt Menschen tötete und verletzte, nutzte am Freitagabend offenbar eine Lücke zwischen Betonpollern, um mit einem Fahrzeug auf Gelände des Marktes in der Landeshauptstadt Sachsen-Anhalts zu gelangen. Ein Video einer Überwachungskamera zeigt, wie der Wagen beschleunigt und zahlreiche Menschen erfasst. Mehrere Hundert Meter legt der Täter zurück, bevor ihn die Polizei festnehmen kann.
Unweit des Tatorts, an der Johanniskirche, haben viele Menschen schon in den ersten Stunden des neuen Tages Blumen niedergelegt und Kerzen angezündet, um der Opfer und Verletzten zu gedenken. Die Feuerwehr ist mit einigen Notfallseelsorgern vor Ort. Ein Mann, grüne Cappi, Brille, kommt und legt einen Strauß auf die Stufen des Kirchenportals. Als er wieder geht, laufen Tränen sein Gesicht herunter.
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„Ich habe eine richtige Wut auf diesen Menschen, der so etwas gemacht hat“
Auf der anderen Straßenseite steht eine Frau vor dem großen, grauen Einkaufszentrum in der Magdeburger Innenstadt. Sie zieht an einer Zigarette. Hier, wo sonst an einem Vormittag kurz vor Heiligabend wohl viele Menschen letzte Besorgungen erledigen würden, ist nicht viel los. Regine und Frank Dombrowski hatten einen Arzttermin, stehen nun dort und gucken auf die Absperrungen gegenüber. „Auf der eine Seite bin ich erschüttert und traurig, auf der anderen Seite habe ich auch eine richtige Wut, auf diesen Menschen, der so etwas gemacht hat“, bricht es dann aus ihr heraus.
Magdeburgs Weihnachtsmarkt gilt als einer der schönsten in der Region. Auch die Dombrowskis, die in einem kleinen Örtchen vor der Stadt wohnen, waren in diesem Jahr schon hier, schlenderten von Bude zu Bude und auch über den Alten Markt, der jetzt zum Tatort wurde.
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Eine Frau schreit in Richtung Scholz: „Tun Sie was!“
Bundeskanzler Olaf Scholz, Innenministerin Nancy Faeser (beide SPD), Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) und auch der Kanzlerkandidat der Union, Friedrich Merz, kommen gegen Mittag, um sich ein Bild von der Lage zu machen und zu kondolieren. Nachdem Scholz den Strauß an der Johanniskirche platziert hat und wieder geht, schreit eine Frau in Richtung des Kanzlers: „Tun Sie was! Muss noch was Schlimmeres passieren?“ Eine betagtere Dame kommentiert den Politik-Besuch trocken mit: „Braucht kein Mensch“.
Scholz, Faeser und Haseloff nehmen sich Zeit, sprechen auch mit einigen Einsatzkräften, die am Abend vor Ort gewesen sind und halfen. Man spürt, dass ihnen die Worte nach so einem erschütternden Ereignis guttun. Das Gespräch setzt die Delegation in Räumen des Magdeburger Rathauses fort. Als die Journalisten auf Statements vom Scholz und Haseloff warten, kommt es zu einer kuriosen Situation. Pünktlich zu Mittagszeit läutet die Glocke des Rathauses in der Melodie von „Fröhliche Weihnacht überall“.
Der Weihnachtsmarkt wird in diesem Jahr geschlossen bleiben
Dann Auftritt Haseloff und Scholz. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident spricht von einer „unfassbaren Tragödie“. Die Zahl an Toten und Verletzen liege in „einer Dimension“, die er für „nicht vorstellbar“ gehalten habe. Scholz spricht von einer „furchtbaren, wahnsinnigen Tat“, die „zutiefst zu Herzen“ gehe. Er sichert Stadt, Opfern und Angehörigen „die Solidarität des ganzen Landes“ zu.
Wie tief die Magdeburger der Anschlag trifft, ist auch abseits der Innenstadt zu spüren. In einem Café steht Sonja Linnemann (72) vor einer Malerei, die das historische Rathaus der Stadt zeigt. Mehr als 40 Jahre ihres Lebens hat sie in der Stadt verbracht, ihre Wohnung liegt unweit des Tatorts. „Das war gestern die Hölle“, sagt sie dann und berichtet von den zahlreichen Einsatzfahrzeugen und Verletzten, die sie beobachten konnte. „Ich gucke genau auf das Riesenrad des Weihnachtsmarkts.“ Blickt sie in den kommenden Tagen aus ihrem Fenster, wird es wohl ruhig sein und menschenleer. Laut Stadtverwaltung wird der Weihnachtsmarkt in diesem Jahr nicht mehr aufmachen.
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