Berlin. Der FDP-Chef schreibt ein Wirtschaftswende-Konzept – mit so harten Forderungen, dass es Spekulationen über einen Koalitionsbruch befeuert.
Der Fehdehandschuh trägt das Logo des Bundesfinanzministeriums und den Titel „Wirtschaftswende Deutschland“. Das ist die Überschrift über einem 18-seitigen Grundsatzpapier aus der Feder von Finanzminister Christian Lindner (FDP), das am Freitagnachmittag öffentlich wurde. Darin blättert Lindner auf, wie aus Sicht der Liberalen der Wirtschaftsstandort Deutschland gestärkt werden kann.
Doch das Papier, über das zuerst der „Stern“ berichtete und das dieser Redaktion vorliegt, liest sich weniger als ein Konzept, wie die Regierung gemeinsam der aktuellen Wirtschaftsschwäche begegnen könnte, und mehr wie eine Kampfansage an die Koalitionspartner.
Lindners Grundsatzpapier ist auch an Fingerzeig an Habeck
Grundsätzlich sieht der Finanzminister in wirtschaftspolitischen Debatten in Deutschland derzeit zwei „Denkrichtungen“, die sich gegenüberstünden. Auf der einen Seite eine „vertikale Industriepolitik durch staatliche Feinsteuerung über kreditfinanzierte Subventionen und selektive Regulierungen“ – ein Verständnis von Wirtschaftspolitik also, in dem der Staat erwünschte Technologien aussucht und durch Subvention und Regulierung fördert. Es ist ein Ansatz, den Lindner beim grünen Wirtschaftsminister Robert Habeck verortet, auch wenn er dessen Namen nicht nennt.
Auf der anderen Seite steht, was Lindner als eine „marktbasierte, diskriminierungsfreie und somit technologieoffene Angebotspolitik durch umfassende Verbesserungen des Ordnungsrahmens“ betrachtet, was im Kern weniger staatliche Steuerung meint und die Position des Finanzministers ist. Auf diese Tradition müsse das Land sich jetzt besinnen, schreibt Lindner. Er fordert eine „grundlegende Wirtschaftswende“.
Lindners Forderungen: Keine neuen Gesetze, Steuern runter, Klimaschutz verschieben
So wirbt er unter anderem für einen sofortigen Stopp beim Erlass neuer Regulierungen – drei Jahre lang solle ein solches Moratorium dauern. Neue Gesetzesvorhaben, heißt es, sollten entweder ganz entfallen oder, wo dies nicht möglich ist, so ausgestaltet sein, dass Bürokratie und Regulierung durch das Vorhaben sinken und keinesfalls steigen. Das bezieht der FDP-Chef auch auf Gesetze, die bereits in Arbeit sind: das Lieferkettengesetz etwa, oder das Tariftreuegesetz, das vor allem den Sozialdemokraten wichtig ist.
Zudem will der Finanzminister trotz der ohnehin schwierigen Haushaltslage Steuern für Unternehmen und Gutverdiener senken. Viele G7- und EU-Mitgliedstaaten hätten in den vergangenen Jahren ihre Unternehmenssteuern signifikant gesenkt, argumentiert er. Deutschland sollte die Unternehmenssteuerbelastung deshalb mittelfristig zumindest auf 25 Prozent senken.
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Auch den Solidaritätszuschlag, den seit 2021 nur noch Unternehmen und Menschen mit hohen Einkommen zahlen, will er erst senken und dann in einem zweiten Schritt bis 2027 abschaffen.
In der Klimapolitik will Lindner weg vom deutschen Ziel, 2045 klimaneutral zu sein, und stattdessen hin zum EU-Ziel 2050. Das deutsche Ziel hatte die vorherige Bundesregierung vorgezogen, nachdem das Bundesverfassungsgericht die damalige Klimaschutzgesetzgebung für unzureichend befunden hatte.
Ampel-Koalition: Vor allem die Grünen können Lindners Forderungen kaum zustimmen
Mit Verweis auf den europäischen Emissionshandel, der ab 2027 auch Gebäude und Verkehr umfasst, heißt es im Papier: „Alle sektorbezogenen Ziele sollten abgeschafft werden.“ Derzeit stehen die Sektorziele im deutschen Klimaschutzgesetz, wenn auch nach den Änderungen der Ampel-Koalition deutlich abgeschwächt.
Auf europäischer Ebene solle Deutschland die Abschaffung der Regulierungen zur Energieeffizienz, Gebäudeenergieeffizienz und der Flottengrenzwerte durchsetzen. „Ebenso ist ein gesetzlich festgelegter Zeitpunkt für den Kohleausstieg nicht notwendig.“ Und in einer langen Liste von Forderungen, denen vor allem die Grünen kaum zustimmen können, findet sich auch die nach der Auflösung des Klima- und Transformationsfonds (KTF).
Für die SPD dürften vor allem Forderungen nach einer Kürzung des Bürgergelds und eine Pauschalisierung bei den Kosten für Unterkunft und Heizung für Kopfschütteln sorgen.
Kopfschütteln bei SPD und Grünen über Lindners „Ohrfeige“
In der Koalition stieß das Papier auf Befremden. Von einer Ohrfeige war angesichts der Forderungen Lindners die Rede. Zudem wurde die Frage gestellt, wie mit diesen Forderungen ein verfassungskonformer Haushalt aufgestellt werden solle. Der Etat für das nächste Jahr gilt ohnehin als Hürde, an der die Koalition scheitern könnte.
„Der Kanzler hat die Stabilisierung des Wirtschaftsstandortes zur Chefsache gemacht“, sagte SPD-Generalsekretär Matthias Miersch dieser Redaktion. Nach Wirtschaftsminister Habeck bringe nun auch Finanzminister Lindner seine Vorschläge in die Debatte ein. „Wichtig ist jetzt, dass der Prozess konstruktiv und lösungsorientiert von allen Beteiligten begleitet wird“, mahnte Miersch.
Omid Nouripour, Noch-Vorsitzender der Grünen, reagierte mit Zurückhaltung auf die Vorschläge. „Wir Grüne sind jederzeit bereit, ernst gemeinte Vorschläge der Koalitionspartner zum Wohle unseres Landes zu diskutieren“, sagte er dieser Redaktion. „Zum Ergebnis kommt man am Ende dann, wenn die Vorschläge der Ernsthaftigkeit der Lage gerecht werden.“
Spekulationen über ein mögliches Ende der Ampel-Koalition heizt Lindner mit seinen Vorstößen an. Seit Monaten ist die Stimmung zwischen SPD, Grünen und FDP schlecht. Lindners Parteikollege und Verkehrsminister Volker Wissing hatte in einem am Freitag veröffentlichten Gastbeitrag in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ noch für einen Verbleib in der Koalition argumentiert. Wenige Stunden später fand Lindners Papier den Weg an die Öffentlichkeit.
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„Absurd und unwürdig“: CDU-Politikerin Klöckner stellt Fortbestand der Ampel infrage
In der Opposition ist man mit der Geduld am Ende: „Es wird immer unübersichtlicher – jeder bringt sein Positionspapier raus, jeder hat seine eigenen Wirtschaftsrunden, aber nichts passt zusammen“, sagte CDU-Wirtschaftspolitikerin Julia Klöckner dieser Redaktion. „Es ist einfach absurd und unwürdig für ein Land mit einer solchen Volkswirtschaft, wie seine Regierung sich benimmt.“
Die wirtschaftspolitische Sprecherin der Unionsfraktion stellte den Fortbestand der Ampel infrage. „Entweder die Drei reißen sich jetzt zusammen und kommen endlich ins Machen – wofür sie bezahlt werden – oder der Kanzler beendet den Spuk“, sagte Klöckner. „Aber so laufen lassen, das ist unverantwortlich.“
Auch einem großen Teil der Bürgerinnen und Bürger würde die Koalition mit einem vorgezogenen Ende offenbar einen Gefallen tun: Im ARD-Deutschlandtrend von dieser Woche sprach sich mit 54 Prozent der Befragten zum ersten Mal eine Mehrheit für vorgezogene Neuwahlen aus.
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