Berlin. Israels Premier Benjamin Netanjahu neigt zu Brachiallösungen. Ein Angriff auf iranische Atom- oder Ölanlagen hätte enorme Risiken.

Nach dem iranischen Raketenangriff aus Israel ist klar: Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wird einen Vergeltungsschlag durchführen. Die Frage ist wann, wo und mit welcher Wucht.

Netanjahu weiß sich in seinem Anti-Terror-Kurs von breiter Zustimmung im eigenen Land getragen. Der unsagbar grausame Anschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 hat Israel verändert. Die Menschen fühlen das zionistische Projekt, nach dem Völkermord der Nazis an den Juden eine sichere Heimstatt zu haben, an seinen Grundfesten bedroht. Die Jetzt-reicht-es-Gangart des Premiers gegen die Hamas, die Hisbollah und den Iran stößt daher auf Unterstützung. „So kann es nicht weitergehen“, sagen viele.

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Sollte Israel iranische Atomanlagen angreifen, droht ein gewaltiger Gegenstoß

Doch so nachvollziehbar das Ziel ist, die Terrorgefahr auszuschalten: Netanjahus Alles-oder-nichts-Ansatz ist fragwürdig. Der Premier wittert ein Fenster der Gelegenheit. Nach der starken Dezimierung der Hamas und der deutlichen Schwächung der Hisbollah will er dem Mullah-Regime einen tödlichen Schlag versetzen. Diskutiert wird in Israels Führung unter anderem eine Attacke auf die iranischen Atomanlagen oder auf die Ölfelder. Beides hätte enorme Eskalationsrisiken.

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Sollte die israelische Luftwaffe iranische Nuklearstätten bombardieren, würde der Gegenschlag Teherans noch gewaltiger ausfallen als der am 1. Oktober. Amerika, Israels wichtigster Verbündeter, wäre dann Kriegspartei. Genau darin besteht Netanjahus machiavellistisches Kalkül: Mit Hilfe der größten Militärmacht der Welt könnte der iranische Gottesstaat zum Einsturz gebracht werden.

Kommentarfoto Michael Backfisch
Michael Backfisch, Politik-Korrespondent © Reto Klar | Reto Klar

Angriff auf Ölanlagen würde die Weltkonjunktur in Turbulenzen bringen

Ein Angriff auf die iranischen Ölanlagen wiederum würde die globalen Energiepreise nach oben schießen lassen. Betroffen wären vor allem Irans Hauptabnehmer China und Indien. Netanjahu spekuliert bei einem derartigen Szenario auf eine tödliche Schwächung der bereits unter Sanktionen ächzenden iranischen Wirtschaft. Es würde jedoch in erster Linie die Weltkonjunktur in schwere Turbulenzen bringen.

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US-Präsident Joe Biden käme ein großer Krieg mit dem Iran äußerst ungelegen. Es würde ihm zum Ende seiner Amtszeit die politische Bilanz verhageln. Vor allem aber würde der republikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump seine Konkurrentin Kamala Harris als Schrittmacherin des globalen Chaos brandmarken. Biden hat deshalb bereits deutlich gemacht, dass die USA eine Attacke auf iranische Atomanlagen nicht unterstützen würden. Ob das einen Vabanque-Spieler wie Netanjahu davon abhält, bleibt abzuwarten.

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Netanjahu neigt zu Brachiallösungen

Der israelische Regierungschef neigt zu Brachiallösungen – in der Hoffnung auf einen für ihn günstigen Umsturz. 2002 ermunterte er US-Präsident George W. Bush zum Einmarsch im Irak. Dies werde zu einer Welle der Demokratisierung im Nahen Osten führen, prognostizierte er. 2018 riet er US-Präsident Trump zur Kündigung des internationalen Atomabkommens mit dem Iran: Dies werde dem Mullah-Regime den Todesstoß versetzen. Beide Szenarien erwiesen sich als gefährliches Wunschdenken.

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Israels Premierminister Benjamin Netanjahu: Zweimal lag er mit seinen Prognosen daneben. © DPA Images | Michael Kappeler

Der Nahe Osten steht am Rande einer neuen Eskalationsstufe, die nicht mehr kontrollierbar und deren Ausgang ungewiss wäre. Fest steht: Mit Kriegslogik und einer ewigen Mehrfronten-Konstellation allein lässt sich keine Stabilität in der Region schaffen. Es rächt sich, dass Netanjahu über keine Exit-Strategie für den gegenwärtigen Konflikt verfügt. Ohne ein Angebot der politischen Teilhabe an die Palästinenser, das zumindest die Aussicht auf einen eigenen Staat mit einschließt, wird die Befriedung der Region eine Fata Morgana bleiben.

Mehr von Israel-Korrespondentin Maria Sterkl