Hamburg. Thüringen und Sachsen stellen die gelernte Demokratie auf den Kopf. Ohne extreme Koalitionen lässt sich mancherorts keine Regierung mehr bilden.

Selten war die Republik so ratlos wie jetzt. Es ist noch nicht lange her, da waren die Liberalen die Königsmacher: Mit wem sie anbandelten, das mussten die Sozialdemokraten um Bundeskanzler Helmut Schmidt 1982 schmerzhaft spüren, der bekam die Macht. Erst als die Grünen in die Parlamente hinzustießen, veränderten sich das Drei-Parteien-System und die Machtbalance. Bald entschieden sich Mehrheiten entlang der politischen Grenzziehungen Schwarz/Gelb gegen Rot/Grün.

Dann kamen die Linken hinzu. 2005 reichte es deshalb für Schwarz-Gelb im Bund nicht mehr – und eine „Große Koalition“ ging an den Start. Zuletzt folgten in den Bundesländern notgedrungen mehr und mehr Dreierbündnisse, weil mit der AfD noch eine Partei aufkam.

Und jetzt geht nichts mehr.

Deutschland unregierbar? Manche Koalitionsoption klingt nach Phantasialand

Wie man‘s wendet, wie man‘s dreht: Will die CDU in Sachsen regieren, muss sie sich neben der SPD oder den Grünen auch noch mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht zusammentun. Wollen die Christdemokraten künftig in Erfurt den Ministerpräsidenten stellen, müsste sie sich nicht nur von Wagenknecht, sondern gar der Linkspartei wählen lassen. In Brandenburg droht am Sonntag ein ähnliches Kuddelmuddel. Die SPD kann nur dann den Landeschef stellen, so zeigen es Umfragen, wenn die CDU und das BSW koalieren. Der Aufstieg der AfD hat die Machtstatik der Republik erschüttert.

Sitzungen der Bundestagsfraktionen - BSW
Sahra Wagenknecht hat mit dem Erfolg ihres Bündnisses die Machtstatik der Republik erschüttert © DPA Images | Kay Nietfeld

Kann das gut gehen? Die Schriftstellerin Juli Zeh warnt bereits vor „Vermeidungsbündnissen“, die nur die Ablehnung der AfD zusammenhält. Diese dysfunktionalen Koalitionen, so die Brandenburgerin, könnten in vier Jahren dazu führen, dass „wenn wir Pech haben, die Zustimmung zur AfD im Bereich von absoluten Mehrheiten liegt“.

Nichts ist mehr undenkbar – selbst absolute Mehrheiten für die AfD?

Undenkbar scheint derzeit nichts mehr: In Thüringen ging Björn Höcke mit 32,8 Prozent als Erster ins Ziel, in Sachsen musste die AfD sich mit 30,6 Prozent nur knapp der CDU geschlagen geben, und in Umfragen liegen die Blauen in Brandenburg mit 27 Prozent in Front. Am kommenden Sonntag könnte sich die Demokratie im Osten ein weiteres blaues Auge holen.

Egal wo man politisch steht, so viel steht fest: Die Eindämmung der AfD ist kolossal gescheitert, die Partei wächst und wächst und wächst. Die frühe Ausgrenzung, ihre Dämonisierung, die ewige Empörung waren gut gemeint und hätten funktionieren können, als die Partei noch klein war. Doch statt zu verschwinden, zog sie nur radikale Kräfte an.

Die Strategie gegen die AfD ist kolossal gescheitert

Nun verkehrt sich diese Strategie ins Gegenteil. Sie hat die Radikalisierung der Partei befördert und beschleunigt, genüsslich suhlt sich die AfD in der Opferrolle. Und wer ständig wieder ruft, Höcke sei ein Nazi, mag seinen Gefühlen Luft machen, erreicht aber eher das Gegenteil: Es schreckt nicht mehr ab, sondern hat sich abgenutzt. Viele sitzen vor dem Fernseher, schauen sich den seltsamen Geschichtslehrer a. D. an und sehen in Höcke nicht Goebbels oder Hitler, sondern zucken mit den Schultern: „So schlimm ist der doch gar nicht.“ Der Mensch gewöhnt sich an vieles.

Das Problem dabei: Deutschland – zumindest aber manche Bundesländer – könnten unregierbar werden. „Diese Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen“, sagt Prof. Frank Decker, Politikwissenschaftler und Populismusforscher an der Rheinischen Friedrichs-Wilhelms-Universität Bonn. Muss nun das Undenkbare gedacht werden? Müssen rechte Parteien in Bündnisse eingebunden werden, sollten sie zumindest die Regierung tolerieren? Werden sie so entzaubert?

Michael Kretschmer
Michael Kretschmer (CDU), Ministerpräsident von Sachsen, muss ein sehr breites Bündnis zusammenbekommen, um weiter zu regieren. © DPA Images | Sebastian Kahnert

Decker verweist darauf, dass viele Hoffnungen trügerisch waren, Populisten ließen sich in Regierungsverantwortung eindämmen. „Die Empirie ist uneinheitlich.“ So habe sich die rechte FPÖ, nachdem sie im Jahr 2000 in Österreich mit der konservativen ÖVP ein Bündnis schloss, zwar bald zerlegt und daraufhin einen Großteil der Wähler eingebüßt. Bald aber begann ihr Wiederaufstieg, es folgte ein neuerlicher Absturz infolge der Ibiza-Affäre und nun offenbar eine weitere Renaissance. „Österreich hat gezeigt: Es gelang nicht, die FPÖ dauerhaft zu dezimieren.“

Österreich ist ein warnendes Beispiel

Decker fürchtet sogar: „Populisten und Rechtsextremisten nutzen oft die Regierungsbeteiligung in ihrem Sinne. Sie festigen damit ihre Machtposition auf Dauer und beeinflussen mit ihren Themen und ihren Personalentscheidungen den politischen Wettbewerb.“ So würden radikale Parteien nicht geschwächt, sondern eher gestärkt.

Etwas anders ist das Hamburger Lehrbeispiel: 2001, nachdem der rot-grüne Senat seine Mehrheit bei der Bürgerschaftswahl verloren hatte, wagte der CDU-Spitzenkandidat Ole von Beust ein ungewöhnliches Dreierbündnis. Neben der FDP holte er auch die rechtspopulistische Schill-Partei, die aus dem Stand auf 19,4 Prozent der Stimmen gekommen war, ins Regierungsboot. Zweieinhalb Jahre und viele Peinlichkeiten der Politnewcomer später ließ Beust das Bündnis platzen. Die Wähler honorierten den Rauswurf: Die CDU verdoppelte fast ihr Ergebnis, holte die absolute Mehrheit der Sitze; die Schill-Partei war Geschichte und verschwand für immer.

Ole von Beust: „Schill war zwar ein Rechtspopulist, aber sicherlich kein Nazi.“

„Natürlich kann man auch Radikale entzaubern, denn die Wahrheit ist immer konkret“, sagt Ole von Beust im Rückblick dem Abendblatt. „Aber es gibt Grenzen: Mit Leuten wie Höcke sollte man nicht einmal sprechen.“ Ronald Schill sei da anders gewesen. „Er war zwar ein Rechtspopulist, aber sicherlich kein Nazi.“

Der frühere Bürgermeister rät seinen Thüringer Parteifreunden, mit dem BSW und den Linken zumindest zu sprechen und dann die Ergebnisse zu bewerten. Dreieinhalb Jahrzehnte nach dem Mauerfall könne man die Linke neu bewerten. „Die DDR ist 35 Jahre her“, so Beust. In der Vergangenheit habe sich die Union deutlich flexibler im Umgang mit radikalen Kräften gezeigt, wie der Hamburger betont: In den 50er-Jahren hat die Partei mit der rechtsgerichteten Deutschen Partei, der FDP und dem Gesamtdeutschen Block / Bund der Heimatvertriebenen zusammengearbeitet: In diesen Parteien waren damals noch viele Ex-Nazis unterwegs.

Politikwissenschaftler sieht die Union in einer „bitteren Situation“

Auch Decker konstatiert eine „bitteren Situation für die CDU“. Sie müsse versuchen, jemanden aus der Linken-Fraktion herausbrechen. „Es wirkt seltsam: Mit Ramelow, der ein verkappter Sozialdemorat ist, schließt man eine Koalition aus, aber mit Sahra Wagenknecht nicht? Die Thüringer CDU wäre gut beraten gewesen, das Verhältnis zur Linken vor der Wahl zu klären.“

Wie es in Thüringen weitergeht, kann sich der Politikexperte kaum vorstellen. „Gedankenspiele, wonach die AfD die BSW-Kandidatin Katja Wolf zur Ministerpräsidentin wählt, haben ja Konsequenzen über das Land hinaus: Dann könnte die CDU in Sachsen kaum noch mit dem BSW koalieren.“

Von einer wie auch immer gearteten Zusammenarbeit mit der AfD rät Decker, der früher an der Bundeswehruniversität Hamburg gelehrt hat, ab: „Alle Parteien haben sich verpflichtet, mit der AfD nicht zusammenzuarbeiten. Wer davon Abstand nimmt, riskiert dramatische Verwerfungen in den Parteien.“

Gegen den Aufwind der Populisten könnte eine andere Migrationspolitik helfen

Wie aber lässt sich die Rechte zurückdrängen? Decker plädiert für eine Große Koalition, die sich an die drängenden Probleme wagt. „Nur die beiden Parteien bringen die Kraft auf, in der Migrationspolitik umzusteuern. Daran führt kein Weg vorbei.“ Zudem sieht er in der Wirtschafts- und Industriepolitik die größten Schnittmengen, ein Thema, das von Woche zu Woche wichtiger werde.

Landtag Brandenburg
Dietmar Woidke (SPD), Ministerpräsident von Brandenburg, muss am Sonntag mit den Sozialdemokraten als stärkste Partei ins Ziel gehen. © picture alliance/dpa | Soeren Stache

Auf dem Weg dahin könne der Erfolg des Bündnis Sahra Wagenknecht der SPD sogar auf die Sprünge helfen. „Das BSW hilft, den Mehrheitswillen der Wähler etwa beim Thema Migration besser abzubilden.“ Die AfD habe durch ihre bloße Existenz zeitweise das Gegenteil erreicht: Um ein Bündnis mit den Rechtspopulisten zu vermeiden, ist die CDU im Osten Verhinderungsbündnisse eingegangen. „Die Union hat mit Grünen und der SPD das Bündnis überdehnt und mit zwei linken Parteien koaliert – obwohl 70 Prozent eher rechts gewählt haben.“

Offene Grenzen klingen gut, sind aber ein sicherer Weg in die politische Bedeutungslosigkeit

Eine weitere Folge. Die Ablehnung der AfD ging so weit, dass das Gegenteil ihrer Programmatik plötzlich geboten schien. Statt Migration zu begrenzen, hat die Ampel sie zunächst sogar noch erleichtert. Erst in den vergangenen Monaten kam die Kurskorrektur. Offene Grenzen klingen gut, sind aber ein sicherer Weg in die politische Bedeutungslosigkeit.

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Auch das hat die AfD stärker gemacht. Nun steht in Brandenburg die Wahl an. Decker fürchtet, dass die AfD wie schon in Thüringen eine Sperrminorität erlangt. „Die AfD dürfte viele Überhangmandate gewinnen und kann schon mit 27 Prozent die Sperrminorität im Parlament bekommen. Damit lassen sich beispielsweise keine Richter mehr gegen die AfD ernennen. Die Partei wird diesen Hebel einsetzen und blockieren.“ Sein Resümee: „Es bedarf keiner Regierungsbeteiligung, um indirekt mitzuregieren.“

Die AfD könnte längst weiter sein, als viele wahrhaben wollen.

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