Hamburg. Politik, Medien und Wissenschaft vertreten oft Minderheitenpositionen. Und signalisieren: Wir haben recht – und ihr seid doof!
Manchmal frage ich mich, wann das alles angefangen hat. Noch vor einem Jahrzehnt hätte ich die deutsche Demokratie für betonstabil gehalten. Noch sind wir weit von Weimarer Verhältnissen entfernt, aber etwas ist ins Rutschen geraten. Das Vertrauen in die Politik, in Medien, in Institutionen schwindet. Die Wut wächst, und die Gräben im Land werden breiter.
Im Osten dürften am Sonntag Wahlergebnisse zu bestaunen sein, die ein Westdeutscher weder versteht noch erträgt. Demokratie ist keine Sandkiste, in der man die Burgen zerstört, weil man sich schlecht behandelt fühlt. Die Republik ist auch keine Netflix-Serie, die mehr Action, Cliffhanger und Katastrophen braucht. Sie ist ohne deutlich besser gefahren.
Hamburger Kritiken: Warum wenden sich die Wähler von der Mitte ab?
Dennoch sollte man nachhorchen, was passiert, wenn immer mehr Menschen an die Ränder fliehen. Wenn man das Bündnis Sahra Wagenknecht eher auf der rechten Seite des Spektrums verortet, ahnt man schnell, woher die Wähler kommen – und wohin sie gehen. Bei der bayrischen Landtagswahl erreichten SPD, Grüne und Linke im vergangenen Jahr zusammen weniger als ein Viertel der Stimmen, im roten Hessen war es kein Drittel mehr. Eine rot-grüne Umfragemehrheit gibt es bundesweit nur noch in Hamburg. Hamburg ist nicht überall, Hamburg ist nirgendwo.
In Thüringen liegen Umfragen zufolge die drei linken Parteien zusammen bei weniger als einem Viertel der Stimmen, das wäre fast eine Halbierung. In Sachsen dürften sie bei rund 15 Prozent landen, vielleicht fliegen alle linken Parteien aus dem Parlament. Ausgerechnet dort, wo einst Ferdinand Lasalle den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein als Vorläufer der SPD gegründet hat. Für die Demokratie ist diese linke Kernschmelze gefährlich.
In zu vielen Debatten fanden sich Menschen nicht wieder, wurden ausgegrenzt
Wie konnte es so weit kommen? In den großen deutschen Debatten der vergangenen Jahre wurden viele Menschen nicht mehr mitgenommen – ihre Meinung wurde tot geschwiegen, ausgegrenzt beziehungsweise als „rechts“ abqualifiziert. Eine Linke, die in Medien, Wissenschaft und Gesellschaft den Ton angibt, hat sich durchgesetzt. Das Problem ist nicht die kulturelle Vorherrschaft, sondern ihre Trägheit zur Debatte und ihr rabiater Umgang mit Andersdenkenden. Genau das hat die Gefahr, die uns heute quält, mit möglich gemacht. Das Pendel schlägt zurück.
Wie bei einer startenden Rakete hat die Bundesrepublik von Krise zu Krise einen kritischen Bevölkerungsteil abgesprengt. Es begann in der Flüchtlingskrise 2015. Damals war man plötzlich rechts, bevor man den Satz „Ich weiß nicht, ob wir das schaffen“ überhaupt zu Ende ausgesprochen hatte. Die Debatte, die wir vor neun Jahren nicht zu führen wagten, entern nun jene, die ins Scheitern verliebt sind. Damals verhinderten sie Medien, Parteien, Kirchen, Verbände. Sie meinten es gut, sie erreichten das Gegenteil.
In der Pandemie wurden mit religiösem Eifer Zweifler als Corona-Leugner abqualifiziert
Oder die Corona-Debatte, die noch extremer ausfiel. Einmal mehr ging es medial und politisch nach dem Motto: Wir haben recht – alle anderen sind doof! Eine große Mehrheit in Medien, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft empörte sich über die „Tyrannei der Ungeimpften“, putzte mit religiösem Eifer jeden Zweifler zum „Corona-Leugner“ herunter und entsorgte aus Angst vor dem Virus Freiheitsrechte wie Altglas. Wer anders dachte, schwieg. Viele, die mit diesem Gesundheitsschutz haderten, glauben nun, „rechts“ zu sein.
Schließlich die Debatte um Krieg und Frieden. Auch hier gibt es keine einfachen Antworten, aber eine einfache Regel. Wer der Eskalation in die Speichen greift, ist so wenig ein Putin-Versteher wie der Befürworter von Waffenhilfen gleich Militarist ist. Aber auch hier ist das Problem, dass sich eine große Anzahl von Menschen wie zuvor in der Flüchtlingskrise oder bei Corona an den Rand gedrängt fühlt. Sie findet in der Öffentlichkeit kaum statt. Und wenn, wird sie in die Ecke gestellt. Wer ständig in der Ecke steht, wird sich bald in der Mitte nicht mehr heimisch fühlen.
Eine Mehrheit der Deutschen meint, man müsse mit der freien Meinungsäußerung vorsichtig sein
Erstmals sagt eine Mehrheit der Deutschen einer Allensbach-Umfrage zufolge, man müsse mit der freien Meinungsäußerung vorsichtig sein. Nur eine Partei glaubt an die freie Rede: 75 Prozent der Grünen-Wähler sind überzeugt, man könne in Deutschland sagen, was man denkt. Vielleicht sagt das mehr über deutsche Debatten aus als über Grüne.
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Der Siegeszug der Populisten könnte damit zu tun haben, dass der Mainstream zu viele verdrängt hat – das ist keine Rechtfertigung, aber eine Erklärung. Und der dringende Aufruf, es zu ändern. Toleranz, sagte Kurt Tucholsky einmal, ist der Verdacht, der andere könnte recht haben. Heute haben wir keinen Tucholsky mehr, aber zu viele Rechthaber.