Solingen. Am Freitagabend tötet ein IS-Terrorist in Solingen drei Menschen, verletzt weitere schwer. Die Chronik eines folgenschweren Wochenendes.
Der Schrecken beginnt am Ende des vorletzten Songs. Seit anderthalb Stunden feiert die Band Suzan Köcher’s Suprafon mit ihrem psychedelischen Folkrock schon mit ihrem Publikum. Für Suzan Köcher ist es ein Heimspiel, sie ist in Solingen geboren, hat hier im Schulchor singen gelernt, bevor sie als Musikerin erfolgreich wurde. Ein letzter Song soll noch kommen, als Suzan Köcher sich wundert.
Ist das eine Schlägerei?, fragt sie sich. Vor der Bühne ist großes Durcheinander, Menschen rennen weg. Dann hört Köcher die Schreie, sie schmeißt ihre Gitarre zur Seite, versteckt sich so gut es geht hinter dem Schlagzeug. Noch kann sie nicht erkennen, ob der Täter dort unten ein Messer oder eine Schusswaffe hat. Sie legt sich so flach hin wie möglich. Was vor der Bühne passiert, kann sie nicht sehen. Sie weiß nur: Auch ihre Eltern sind da unten irgendwo.
In der Menschenmasse vor der Bühne sticht in diesen Momenten ein Mann mit einem langen Messer wahllos auf Personen ein, er zielt immer direkt auf den Hals. In kürzester Zeit tötet er drei Menschen: einen 67-jährigen Mann, einen 56-jährigen Mann und eine 56-jährige Frau. Vier weitere Menschen verletzt er lebensgefährlich, zwei müssen schwer verletzt ins Krankenhaus, zwei Konzertbesucher haben Glück und erleiden nur leichte Verletzungen.
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Anschlag von Solingen: Der Täter flieht Richtung Kirche
Das ganze dauert nur Augenblicke, dann flüchtet der Mann unerkannt. Zeugen sehen, wie er die Treppen an der Stadtkirche hinuntereilt, unten kann er in vier Richtungen fliehen. Oben sind die Sicherheitskräfte beschäftigt, den Menschen zu helfen, sie haben ihn nicht erkannt. Bei der Einsatzleitstelle der Polizei gehen um 21.37 Uhr die ersten Notrufe ein, sofort wird ein Großalarm ausgelöst – doch als die Beamten ankommen, ist der Täter schon weit weg.
Es ist das Ende eines Festes, an dem die Stadt Solingen – die für viele immer mit dem Brandanschlag von 1993 verbunden bleiben wird, bei dem fünf türkischstämmige Frauen und Mädchen ermordet wurden – ihre Vergangenheit und Zukunft feiern wollte. Zum 650. Stadtjubiläum hatte die Stadt ein dreitägiges „Festival der Vielfalt“ geplant. Tausende Menschen waren am Freitagabend in der Innenstadt unterwegs. Offenheit und Demokratie, Toleranz und Frieden, das wollten sie feiern, hatte der Oberbürgermeister verkündet.
Es sind jene Werte, die der IS hasst. Am Samstagabend bekannte sich die Terrororganisation zu dem Anschlag: Der Angreifer sei IS-Mitglied gewesen und habe die Attacke aus „Rache für Muslime in Palästina und anderswo“ verübt. Damit wird der Anschlag nicht nur die Opfer und ihre Angehörigen, die Stadt Solingen, sondern auch Deutschland noch lange beschäftigen. Die nordrhein-westfälische Tageszeitung „WAZ“, die wie diese Redaktion zur FUNKE Mediengruppe gehört, mit einer Chronik des folgenschweren Wochenendes von Solingen.
Tatort Fronhof in Solingen: „Hier sticht jemand Leute ab!“
Philipp Müller ist in der Solinger Kultur ein Urgestein. Müller ist einer der Organisatoren des Stadtfestes. Von der Tragödie erfährt er am Telefon. Sein Manager, der an der Bühne am Fronhof Dienst hat, schreit aufgeregt: „Hier sticht jemand Leute ab!“ Kurze Zeit später meldet der Mann, dass Menschen reanimiert werden müssen. Müller eilt vom Neumarkt zum Ort des Geschehens. Es sind nur wenige Meter, aber er braucht fünf Minuten, die Innenstadt von Solingen ist an diesem Freitagabend so voll wie lange nicht mehr.
Als Müller die blutige Szene sieht, weiß er sofort: „Wir müssen abbrechen.“ Müller eilt zur benachbarten Bühne am Mühlenplatz, sagt durch, dass es eine Messerattacke mit Verletzten gegeben habe und bittet die Menschen sich dennoch ruhig zu verhalten. „Panik wäre das letzte gewesen, das wir gebraucht hätten.“ Tatsächlich hören die Menschen auf ihn, sie verlassen das Fest nach dem Abbruch ruhig und geordnet.
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Auf der dritten Bühne des Stadtfestes spielt an diesem Abend der inzwischen vielleicht bekannteste Sohn Solingens: Thomas Topic, international erfolgreicher DJ und Musikproduzent. Er tritt gemeinsam mit den Bergischen Symphonikern auf, das Konzert ist der Höhepunkt des Stadtfestes. Nach dem Gig legt Topic noch auf.
„Ich sitze hier am Fenster, wo ich als Teenager, als Kind aufgewachsen bin – plötzlich fliegen hier Helikopter rum und suchen nach einem Massenmörder. Es ist unfassbar.“
Was dann passierte, berichtete der DJ noch in der Nacht sichtlich ergriffen seinen 207.000 Instagram-Followern. „Ich bin so geschockt“, sagt er. Er sitze hier am Fenster seiner Heimatstadt, Helikopter würden über sie hinweg fliegen. Seine Freunde mit kleinen Kindern seien nur haarscharf davon gekommen. Er selbst sei kurz nach dem Anschlag vom Sicherheitspersonal gebeten worden, weiterzuspielen, damit keine Panik ausbricht. Das sei unglaublich hart gewesen.
Nach dem Angriff alarmiert die Polizei Beamte aus ganz NRW, Spezialkräfte rücken an, Hubschrauber kreisen über der Stadt. Der Tatort wird weiträumig abgeriegelt. Experten der Spurensicherung und ein großes Team an Notfallseelsorgern rückt an.
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Attentäter von Solingen auf der Flucht – Spekulation um „Allahu Akbar“-Ruf
Einige Hundert Meter vom Tatort entfernt richtet die Polizei ein Pressezentrum ein. Alexander Kresta, Sprecher der Polizei Wuppertal sagt dutzende Male die immer gleichen Worte: „Wir haben noch keine sehr konkrete Personenbeschreibung von dem Täter“. Die Beschreibungen würden variieren und seien sehr schmal. Menschen, die den Täter gesehen hatten, stünden noch unter Schock. Nichts deute auf weitere Täter hin.
Es ist kurz vor ein Uhr nachts, als eine schwarze Limousine vorfährt. NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) ist nach Solingen gekommen. „Das ist ein schreckliches Ereignis, was da passiert ist“, sagt er. „Man kann nur beten, dass diejenigen, die schwer verletzt wurden, es schaffen.“ Er selbst habe ferngesehen, als er die Nachricht bekam. Reul appelliert noch an die Journalisten, sich nicht an Spekulationen zu beteiligen. Dann entschwindet er wieder in die Nacht.
In der Tat überschlagen sich in den Sozialen Medien bereits die Gerüchte. Immer wieder wird auch Polizeisprecher Kresta damit konfrontiert. Im Netz stehe, ein Zeuge habe gehört, wie der Täter „Allahu Akbar“ gerufen habe, bevor er zustach. Mehrere Menschen hätten gesagt, der Täter habe südländisch ausgehen. Doch Kresta bleibt professionell. „Bitte lasst uns nicht spekulieren: Wir haben da noch nichts Belastbares.“
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Polizei schlägt zu: die erste Festnahme
Am frühen Samstagmorgen schlägt die Polizei das erste Mal zu. Sie nimmt einen 15-Jährigen fest. Zwei Besucherinnen des Stadtfestes hatten der Polizei berichtet, der Junge habe sich mit dem Täter unterhalten, bevor er die Menschen angegriffen habe.
Unterdessen verbreitet sich die Nachricht, im Minutentakt kommen nun Reaktionen, Politiker fast jeder Couleur äußern ihr Mitgefühl. Die deutsche Fußballliga empfiehlt ihren Clubs, Trauerflor zu tragen. In Hilden sagen sie das Stadtfest ab, in Wülfrath den Blaulichttag. Das Bochumer Zeltfestival erhöht die Sicherheit
Solinger Stadtkirche wird zum Zentrum der Trauer
Die Solinger Stadtkirche steht direkt am Fronhof, sie bildet das Zentrum der Trauer in der Stadt. Im Minutentakt kommen am Samstag Menschen, legen Blumen ab, zünden Kerze an, singen gemeinsam. Man kann auf einem Transparent unter dem Schriftzug „Du bist nicht allein“ seine Trauer niederschreiben. Ein gerahmtes Foto steht dort. Es zeigt einen Mann in Windjacke. Er lächelt in die Kamera.
Die hohen Türen der Kirche stehen weit offen, drinnen reibt Simone Henn-Pusch die Finger ihrer gefalteten Hände gegeneinander. Man sieht ihr die Müdigkeit an, die ganze Nacht war sie im Einsatz. Henn-Pusch hat die 25 Notfallseelsorger koordiniert, die für Betroffene und Einsatzkräfte in der Stadt unterwegs waren.
„Ich erlebe meine Stadt in einer Art Schockstarre.“
Seit 1999 macht sie diese Arbeit. „Im Moment funktioniere ich“, sagt sie. Um sie herum Menschen, die dankbar die Hilfe der Seelsorger und Seelsorgerinnen annehmen. Wie dieses junge Mädchen mit dem blondem Zopf, das später sagen wird: „Ich bete für meine Stadt. Ich möchte nicht, dass sie in Angst lebt.“
Simone Henn-Pusch sagt, sie erlebe ihre Stadt in einer Art Schockstarre, so still, viele seien zu Hause geblieben. Und doch sei sie zufrieden, eine Anlaufstelle geben zu können. Dann setzt sie sich im großen Kirchenraum auf den Stuhl neben eine Einsatzkraft. Dieses Gespräch wird lange dauern.
Die Spuren der Tat – vor dem Tatort beginnt die politische Vereinnahmung
Der Fronhof selbst ist abgeriegelt, liegt wie eingefroren unter der Augustsonne. Davor sprechen Polizistinnen und Polizisten mit Passanten. Ein grüner Sonnenschirm liegt vor der Bühne, zwei rote Pavillons stehen dort, darunter die Spuren der Tat.
An einigen Orten durchbricht das Leben schon wieder die Stille nach der Tat. Ein Straßenmusiker spielt in der Nähe Akkordeon, in einem Café unterhalten sich Menschen. Und vor einer Absperrung stellt sich ein AfD-Politiker auf, seine Begleitung, im kurzen Kleid mit Hund, filmt, wie er von Grenzschutz und der Politik seiner Partei spricht. Während die Polizei noch versucht zu verstehen, was passiert ist, hat die politische Vereinnahmung längst begonnen.
Ermittler setzen Spekulationen Fakten entgegen
Es ist 15.02 Uhr am Samstag, als im Polizeipräsidium Wuppertal die Ermittler versuchen, den Spekulationen Fakten entgegenzusetzen. Die Pressekonferenz haben sie in die Nachbarstadt verlegt, weil es in Solingen keinen Raum gab, der groß genug schien. Doch viel Neues haben die Ermittler nicht zu sagen:
- Es könnte ein Terroranschlag gewesen sein. Der Täter habe seine Opfer offenbar zufällig ausgesucht und gleich auf den Hals gezielt.
- Der Mann scheint allein gehandelt zu haben.
- Messer wurden gefunden.
- Doch eine Beschreibung gibt es nicht. Denn die Zeugen widersprechen sich, auf einem Video von der Tat ist der Täter nicht zu erkennen.
- Es gibt bundesweit Durchsuchungen.
- Vor der Tat gab es keine Hinweise. Deswegen habe es keine Messerverbotszone und keine Videoüberwachung gegeben.
Faeser, Wuest, Reul und Solingens Oberbürgermeister treten vor die Presse
Gegen 17 Uhr halten drei dunkle Limousinen hinterm Rathaus. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), ihr NRW-Kollege Herbert Reul (CDU) und Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) gehen wortlos ins Gebäude, um zunächst mit Solingens Oberbürgermeister Tim Kurzbach (SPD) zu sprechen. Als sie gemeinsam vor die Presse treten, sagt Wüst: „Dieser Terror soll unsere Art zu leben erschüttern und ins Wanken bringen. Ich sage es in aller Klarheit: Nordrhein-Westfalen, unser Land, wankt nicht.“.
Dieser Anschlag dürfe nicht die Gesellschaft spalten, sagt auch Faeser. „Das lassen wir nicht zu.“ Es sei eine furchtbare Art des Anschlags gewesen – in einem Moment, in dem die Stadt ihr Jubiläum mit Bürgerinnen und Bürger gefeiert habe. Innenminister Reul kündigt an, die Polizeipräsenz im ganzen Land zu erhöhen, besonders aber bei Großveranstaltungen.
Auf dem Neumarkt treffen sich nahezu zeitgleich Hunderte Menschen zu einer spontanen Gedenkfeier. „Wir wollten drei Tage lang feiern, stattdessen stehen wir nun hier“, sagt Ilka Werner, Superintendentin des evangelischen Kirchenkreises. Und Stadtdechant Michael Mohr erklärt: „Solingen ist eine andere Stadt als es gestern war.“ Sie zünden Kerzen an, legen Blumen nieder, reden kaum.
Zweiter SEK-Einsatz in Notunterkunft für Flüchtlinge
Es ist kurz nach 20 Uhr am Samstagabend, als ein zweites Spezialeinsatzkommando sich vorbereitet. Herbert Reul erzählt gerade im Brennpunkt der ARD, dass mehr als 400 Hinweise eingegangen seien, als eine Hundertschaft eine Notunterkunft für 145 Flüchtlinge absperrt. Sie liegt nur 250 Meter vom Tatort entfernt, auf der Strecke dazwischen wurde die Tatwaffe gefunden. Schwer bewaffnet rückt die Polizei in das ehemalige Finanzamt ein.
Mitten in die Aktion trifft eine Nachricht ein: Der Islamische Staat reklamiert die Tat für sich. Die SEK-Spezialisten führen einen 36-jährigen Mann ab. Doch wenig später wird sich herausstellen. Er ist nicht der Täter.
Attentäter von Solingen stellt sich 25 Stunden nach dem Terror-Anschlag
Kurz nach 23 Uhr, knapp 25 Stunden nach der Tat, stellt sich der Gesuchte. Er habe sich in einem Hinterhof versteckt, berichtet die „Bild“-Zeitung. Er sei dann blutverschmiert auf eine Polizeistreife zugegangen sein: „Ich bin der, den ihr sucht.“ Später gesteht der Mann, für den Anschlag verantwortlich zu sein. Es handelt sich um den 26-jährigen Syrer Issa al H., der Ende Dezember 2022 nach Deutschland geflohen war.
Er sollte im vergangenen Jahr von Paderborn aus nach Bulgarien abgeschoben werden, das nach den europäischen Regeln für ihn zuständig gewesen wäre. Doch Issa al H. war abgetaucht. Die Behörden sollen ihn nicht zur Festnahme ausgeschrieben haben, weil er als unauffällig galt. Als im August die Überstellungsfrist abgelaufen war, tauchte der Syrer wieder auf. Deutschland war nun offiziell zuständig. Die Behörden überwiesen ihn nach Solingen.
Mitarbeit: Kira Alex, Tobias Blasius, Dagobert Ernst, Andreas Fettig, Sina Heilmann, Anne Krum, Thomas Mader, Stefan Meinhardt, Marc Wolko
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