Berlin. Peter Lochner wohnt in einer Holzhütte mit Blick über die Rhön – und gilt als Dorfweiser. Doch nicht auf alle Fragen weiß er Antwort.
Prall der Schinken, quellwassergekühlt das Bier, weit der Blick über die Rhön. „Ich bin ein rundum glücklicher Mensch.“ Ein Satz, den man in Thüringen nicht oft hört. Irgendwas ist ja immer. Bei Peter Lochner zwickt gerade der Rücken. Egal. Hier oben, auf seiner Holzhütte, hat er schon mit Opa und Vater gesessen und am Feuer unter Eichen bis tief in die Nacht diskutiert: über die Denkfehler im Sozialismus, ob sich der Eintritt in die SED vermeiden lässt, den FC Bayern.
Unten in Kaltenlengsfeld, wo er im Winter 1947 in der guten Stube zur Welt kam, gilt Lochner als Dorfweiser. Er mäht den Fußballplatz, markiert den neuen Rundwanderweg, hat an der Dorfchronik mitgearbeitet und macht Lokalpolitik. Neulich, nachdem Starkregen das Dorf überflutet hat, mahnte er im Gemeinderat das Ausbaggern der Abflusskanäle an. Er war mal wieder der Einzige in der Versammlung. „Bringt ja doch nichts“, sagen die Nachbarn. Plötzlich wurden die Kanäle gesäubert. „Bringt doch was“, sagt Lochner, „man muss sich halt kümmern.“
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Peter Lochner, der nur „Pelo“ gerufen wird, wählt grün und protestiert mit den „Omas gegen rechts“ bei einem Sommerfest der AfD. Dennoch wird der ehemalige Berufsschullehrer respektiert. Seine Familie siedelte seit Jahrhunderten hier, die Eltern haben die letzte Kneipe im Dorf betrieben. Opa hat dem Knirps ein Bänkchen gebaut, damit er für die Gäste zapfen konnte. Als die Mauer fiel, hat er seine damalige Freundin und Trabi-Besitzerin gebeten: „Fahr‘ mich nach Kreuzberg.“ Da hat er Tee getrunken, das Begrüßungsgeld abgeholt und ist dann zurückgefahren in die Rhön. Er ist der Letzte seiner Familie; die Tochter wurzelt im Westen.
Thüringen vor Landtagswahl: „Es geht den Leuten gut hier“
„Pelo, was soll ich wählen?“, fragen die Leute. Lochner gibt geduldig Auskunft, auch wenn er den Verdacht nicht loswird, dass viele ihre Entscheidung längst getroffen haben. Einige AfD-Wähler gröhlen, viele schweigen. Was macht die Faszination der Rechten aus? „Ich weiß es doch auch nicht“, sagt Lochner und säbelt am Schinken. „Es geht den Leuten gut hier.“ Zwei Autos, zwei Urlaube im Jahr, gut bezahlte Arbeit im nahen Bayern. Und trotzdem dieses Meckerphlegma, ein gesamtdeutsches Volksleiden, das im ländlichen Thüringen allerdings besonders ausgeprägt ist.
Immerhin tun die Bauern den Klimawandel inzwischen nicht mehr als Märchen ab, seit die Äcker immer öfter absaufen. Eines Tages werden sich auch die Vorzüge regenerativer Energien herumgesprochen haben. Peter weist ins Tal und erklärt die fränkische Siedlungspolitik anhand der Dorfnamen. Er rollt das „R“. Bayern? Thüringen? Das sind politische Bezeichnungen. „Aber im Herzen sind hier alle alle Franken“, sagt Peter, „eigentlich Rhöner.“ Und Thüringen? Das habe mit der Identität der Menschen hier nicht viel zu tun, sagt Pelo: „Thüringen ist ein Konstrukt.“
Thüringen ein Konstrukt? Da ächzt der Lokalpatriot. Aber es stimmt ja: Thüringen ist wie Bielefeld – es gibt Zweifel an seiner Existenz. Die frühen Thüringer waren weniger Stamm als vielmehr eine zusammengewürfelte Truppe aus Angeln, Warnen und anderen Germanen. Die Turonen, auf die sich Neonazis gern beziehen, waren wohl ein Zweig der Kelten. Historiker mutmaßen, dass Thüringen und die 1000 Kilometer entfernte Touraine in Frankreich gemeinsame Wurzeln haben.
Wer Ministerpräsident werden will, setzt sich auf eine Simson
Manche Thüringer hören gerne Bach, andere lieber Simson. Das Knattern der Zweitakt-Mopeds gehört zum Soundtrack Ostdeutschlands, ob Habicht oder Sperber, Spatz oder Schwalbe. Mario Klemt springt auf die schwarze S51 und dreht eine Proberunde um das alte Fabrikgelände vor den Toren Suhls. Läuft. Eine Klausel im Einigungsvertrag erlaubt den Simson-Maschinen 60km/h, was im Stadtverkehr praktikabler ist als die auf 45 km/h gedrosselten Westgefährte.
1,6 Millionen Schwalben wurden in Suhl gebaut, jene Vespas des Ostens mit der auffälligen Hinterradverkleidung. Was heute als E-Schwalbe durch die Berliner Szenekieze surrt, hat mit der guten, alten S 50 nur den Namen gemeinsam. Die Simson-Fabrik wurde 2002 abgewickelt. Mario Klemt hat trotzdem gut zu tun. In seiner Werkstatt blinken die Schätze. Ein restauriertes Moped geht für 5000 Euro weg, mal nach Hamburg, nach München oder bis nach Irland.
Simsons sind Kultobjekte, gefeiert in zahllosen Internet-Foren, Vereinen und auf Liebhabertreffen. Ob Björn Höcke oder Mario Voigt – wer Ministerpräsident werden will, setzt sich fürs Wahlwerbefoto auf so ein Moped. „Aber besser nicht auf eine Schwalbe“, erklärt Klemt, „die ist für Loser.“ Simson-Kenner bevorzugen die flottere S53. Deren Motor hat Herr Walther konstruiert, der aus seinem Fenster im ersten Stock bis in die Werkstatt von Klemt gucken kann. Walther war Ingenieur bei Simson. Jetzt ist er 76 und wohnt noch immer auf dem alten Firmengelände.
In Sonneberg probiert man den offenen Meinungsaustausch
„Wir hatten damals schon Pläne für ein Elektromoped“, erklärt er von seinem grünen Kissen aus. Ab 1990 wurde der Hotzenblitz hier produziert, ein ausgeklügeltes und vor allem leichtes Elektroauto, das Tüftler aus Baden-Württemberg entwickelt hatten und in Suhl bauen lassen wollten. Leider hat damals niemand kapiert, dass bei Simson Prototypen für die Zukunft auf dem Hof standen.
Warum immer noch Ossi und Wessi? Muss der Staat mehr Stärke zeigen? Kennt allein Gabriele Krone-Schmalz die Wahrheit? Eine Frau sagt, dass ihr Opa im KZ gewesen sein und sie auch sehr ängstlich sei, wenn sie über Frieden mit Putin spreche. Kein Thema zu bunt, keine Meinung zu speziell – heute Abend darf im Gesellschaftshaus von Sonneberg alles gesagt werden. 60, 70 überwiegend ältere Herrschaften probieren den offenen Meinungsaustausch, ausgerechnet vor Vertretern von Systemmedien, typische Diedas: die da in ihren elitären Kreisen, die da mit ihrem linksgrünen Quatsch, die da in Berlin. Heute Abend sind die da in Sonneberg.
„Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“, heißt die Reihe des Schriftsteller- und Journalistenverbandes PEN Berlin, vor zwei Jahren in Gotha gegründet. Bei 37 Gesprächsabenden in den Wahlländern Sachsen, Brandenburg und Thüringen soll ergründet werden, woher dieses Unbehagen stammt, man dürfe seine Meinung nicht sagen. Heute angereist: PEN-Chef Deniz Yücel, die Co-Chefin von Correctiv Anette Dowideit, Schriftsteller Martin Jankowski und der Thüringenkenner Martin Debes vom Stern.
Über manche Dinge wird in Thüringen nicht gern gesprochen
Es geht weniger um Artikel 5 des Grundgesetzes als vielmehr um eine basisdemokratische Übung: andere Meinungen aushalten. Rasch verliert sich der Abend im Durcheinander der Ansichten, Yücel gibt seine berüchtigten Monologe, das Podium gerät zum Nebenschauplatz. Aber das ist auch gar nicht schlimm. Man hört sich zu, es wird nicht abgewertet. Nach zwei Stunden gehen die Menschen zufriedener als sie gekommen sind. Reden hilft.
Verwunderlich allerdings, dass die meisten Besucher von auswärts kamen und nur etwa zehn aus Sonneberg. Das Ordnungsamt hat die Werbeplakate für den Abend abnehmen lassen. Ob der parteilose Sonneberger Bürgermeister und sein AfD-Landrat gemeinsame Sache gemacht haben? Reine Spekulation. Es gehört zu den Thüringer Eigenarten, über manche Dinge einfach nicht zu sprechen. Warum, will eine Dame wissen, kämen derzeit denn wieder so viele Medienvertreter nach Sonneberg? Und alle berichteten kritisch.
Könnte daran liegen, dass hier seit einem guten Jahr der AfD-Vertreter Robert Sesselmann Landrat ist, der den Euro abschaffen, mit Putin verhandeln und den Klimawandel verbieten wollte – die üblichen Versprechen, die mit Landespolitik nichts zu tun haben. Ein Jahr später wird in Sonneberg noch immer mit Euro bezahlt, Putin hat Sesselmann nicht empfangen und selbst bei den machbaren Aufgaben hat der Höcke-Freund kaum etwas bewegt. Es soll Menschen geben, die wegen Sesselmann nicht mehr so gern nach Sonneberg kommen. Auch das gehört zur Meinungsfreiheit.
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