Berlin. Das Verfassungsgericht stellt beim neuen Wahlrecht ein Stoppschild auf, aber der zentrale Schachzug von SPD, Grünen und FDP bleibt bestehen.
Es ist eine politische Daueraufgabe, die mit diesem Urteil fürs Erste erledigt ist. Das zuletzt unaufhaltsam scheinende Wachstum des Bundestags ist gestoppt – durch das Wahlrecht, das SPD, Grüne und FDP im vergangenen Jahr beschlossen haben.
Eine große Einschränkung gibt es: Einer Abschaffung der Grundmandatsklausel hat das Bundesverfassungsgericht, wie von vielen Prozessbeteiligten und Beobachtern vorher erwartet, erst einmal eine Absage erteilt. Vor allem die CSU, deren Sonderstellung als Teil der Unionsfraktion das Gericht hervorgehoben hat, kann sich darüber freuen. Aber auch für die Linke könnte diese Entscheidung des Gerichts zumindest noch ein weiteres Mal zum Rettungsanker werden. Dann nämlich, wenn es der Partei, die in den Umfragen bei drei Prozent steht, gelingen sollte, noch einmal drei Direktmandate zu holen.
Im Kern aber ist das Urteil ein Erfolg für die Ampel-Parteien. Denn das zentrale Prinzip dieser Reform, das die Gewichtung zwischen Erst- und Zweitstimmen verschiebt, widerspricht der Verfassung nicht. Ein Sieg im Wahlkreis reicht damit künftig nicht mehr aus, um sich sicher auf einen Sitz im Bundestag freuen zu können. Was zählt, ist das Verhältnis der Stimmen, die den Parteien selbst gegeben werden.
Wahlrecht: Ampel-Koalition hat erreicht, was lange vergeblich versucht wurde
Das Urteil trägt der Tatsache Rechnung, dass der Kern politischer Identifikation und Repräsentation hauptsächlich nicht bei den Wahlkreisabgeordneten liegt, sondern bei den Parteien, die sie aufstellen. Die meisten Menschen dürften Schwierigkeiten haben, ohne nachzuschauen zu sagen, wer in ihrem Wahlkreis das Direktmandat hat. Die stärkste Partei kennen dagegen viele, vor allem in etablierten Hochburgen.
Völlig frei von Widerhaken ist auch dieses Wahlrecht nicht. Die Ungleichbehandlung von unabhängigen Kandidaten und Parteikandidaten etwa besteht fort. Aber vollständig stimmig war auch das alte Wahlrecht nicht, und der Bedarf für eine Reform war groß.
Die Ampel hat erreicht, was lange versucht wurde
Die Ampel-Koalition hat jetzt erreicht, was lange vergeblich versucht wurde: Der Bundestag wird bei der nächsten Wahl merklich kleiner werden. Das unerfreuliche Rechenspiel um immer mehr Überhang- und Ausgleichsmandate findet damit ein Ende.
Dass ausgerechnet die Union eine verfassungsgemäße Lösung nun wieder aufdröseln, wieder an den Regeln schrauben und somit neue Unsicherheit produzieren will, muss man deshalb gerade nach dem Urteil dem parteipolitischen Interesse statt der Sorge um demokratische Spielregeln zuschreiben. Gescheitert ist eine Regelung im Einvernehmen nicht zuletzt immer wieder an der CSU, die nicht bereit war, auf ihre Überhangmandate zu verzichten.
Die Kritik der Union ist vor allem parteipolitisch zu verstehen
Dabei könnten gerade die Christsozialen mit diesem Spruch eigentlich mehr als zufrieden sein. Die reale Gefahr, dass die Bayern bei der nächsten Bundestagswahl nicht mehr ins Parlament gekommen wären, ist abgewendet. Wären sie bundesweit unter fünf Prozent geblieben, hätten auch ihre zahlreichen Direktmandate nichts gerettet.
Wenn die Koalition klug ist, steckt sie diesen Erfolg in die Tasche – und spart sich ein Hauen und Stechen darum, wie man vor der Bundestagswahl noch korrigieren könnte, was das Gericht moniert hat. Der zweite Senat hat im Wissen um die knappe Zeit nicht umsonst entschieden, dass bis zu einer Neuregelung die alte Grundmandatsklausel einfach weiter gelten kann. Die Debatte darüber, wie sie zu ersetzen wäre, sollten die vom ständigen Kampf ohnehin arg gezeichneten Koalitionspartner der nächsten Regierung überlassen.
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