Jerusalem. In Israel müssen alle zur Armee – nach dem Urteil des Obersten Gerichts auch die Ultraorthodoxen. Doch sie kämpfen um ihre Privilegien.
Mirco Keilberth
Tausende Männer in schwarzen Anzügen, Hüten und mit den auffälligen Schläfenlocken, den Pejes, drängen sich durch die Straßen von Mea Shearim. Ultraorthodoxe Juden sind in dem traditionellen Bezirk von Jerusalem in der Mehrheit, doch der Protest gegen das Gerichtsurteil mobilisiert die Ultraorthodoxen im ganzen Land. „Wir werden uns von der feindlichen Armee nicht mustern lassen“, steht auf einem der Plakate, das sie in die Höhe halten.
Gemeint ist damit die israelische Armee. Viele in Mea Shearim lehnen die zionistische Ideologie und einen rein jüdischen Staat ab. Sie wollen die Tora studieren und beten und auf keinen Fall zur Armee. Nicht nur optisch unterscheiden sich die Demonstranten in Jerusalem stark von Israelis, die täglich in Tel Aviv auf die Straße gehen. In Tel Aviv geht es um die Befreiung der Geiseln und ein Ende des Krieges gegen die Hamas, die Ultraorthodoxen von Jerusalem kämpfen um ihren ganz eignen Lebensstil.
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Am 25. Juni hatte der Oberste Gerichtshof entschieden, dass zukünftig auch die streng religiösen Juden zum dreijährigen Militärdienst verpflichtet sind. „Auf dem Höhepunkt des harten Krieges erfordert die Belastung durch eine ungleiche Verteilung der Bürde eine Lösung“, begründen die Richter das Ende der seit der Gründung Israels vor 76 Jahren geltenden Sonderbehandlung der Ultraorthodoxen.
Israel: Für die Ultraorthodoxen wurden viele Ausnahmen gemacht
In Mea Shearim glaubt man, der Staat, den man nicht als rechtmäßig anerkennt, habe ihnen nun einen Krieg erklärt. Denn das Gericht wies der Regierung auch an, allen religiösen Schulen, den sogenannten Jeschiwas, deren Schüler sich nicht an die Einberufungsbescheide halten, die Finanzierung zu entziehen. „Der Grundsatz, wonach alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, wurde bisher ernsthaft verletzt“, heißt es in der Urteilsbegründung
Schon ab August will das israelische Militär offenbar damit beginnen, ultraorthodoxe Männer zum Wehrdienst einzuziehen. Verteidigungsminister Joav Galant habe dazu ein Gespräch mit Generalstabschef Herzi Halevi geführt und einer entsprechenden Empfehlung der Armee zugestimmt, berichten israelische Medien Mitte der Woche unter Berufung auf Galants Büro.
Bisher wurden für die Ultraorthodoxen viele Ausnahmen gemacht. Auch bei den Protesten fällt das auf. Während die Polizei gegen die meist jungen Regierungsgegner in Tel Aviv oft brutal vorgeht, lässt man die religiöse Szene in Jerusalem trotz ihrer feindlichen Haltung gewähren. Die Behörden scheinen die Ultraorthodoxen zu fürchten. Sie stellen mit 1,28 Millionen Anhängern 13,5 Prozent der Bürger Israels, bis zum Ende des Jahrzehnts wird ihr Anteil auf 16 Prozent steigen. Ultraorthodoxe Eltern haben oft sehr viele Kinder.
„Wir sind doch das spirituelle Herz des jüdischen Staates“
An dem Streit um die Wehrpflicht für die Ultraorthodoxen war Ende 2018 bereits die damalige Regierungskoalition gescheitert. Die Partei von Premierminister Benjamin Netanjahu kritisiert damals wie heute die Wehrpflicht für alle. Die Opposition wolle das Thema wieder nutzen, um die aktuelle Regierung zu stürzen, so ein Likud-Sprecher. Von der Allianz mit den ultrakonservativen religiösen Parteien hängt die Regierungskoalition Netanjahus ab. Kabinettsminister Jitzchak Goldknopf führt die mit Netanjahu verbündeten ultraorthodoxe Partei Agudat Jisra`el an.
„Wir sind doch das spirituelle Herz des jüdischen Staates“, sagt ein 38-jähriger Demonstrant in Mea Shearim. „Ich kann mein Thorastudium nicht mit dem Militärdienst vereinbaren. Der Staat kann mich nicht zu einem Verrat meiner tiefsten Überzeugung zwingen.“ Doch seit dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober haben immer weniger Israelis Verständnis für die abgeschottete religiöse Szene, in der nur 30 Prozent der Männer einer geregelten Arbeit nachgehen.
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Im besetzten Westjordanland rund um Jerusalem fehlt es derweil an Rekruten zur Absicherung der geplanten massiven Ausweitung jüdischer Siedlungen. Finanzminister Bezalel Smotrich hat erst letzte Woche den Bau von mehr als 5000 neuen Häusern genehmigt. Der Krieg im Gaza-Streifen und der drohende Krieg mit der Hisbollah-Miliz an der Grenze zum Libanon bindet große Teile der Israelischen Armee (IDF).
Strenggläubige Rekruten müssen mehrmals täglich beten
„Ich sterbe lieber, als gegen meine Überzeugung zur Waffe zu greifen“, sagt Yusef, ein 34-jähriger Familienvater aus Mea Shearim. Wie die meisten Ultraorthodoxen lehnt das Internet, Mobiltelefone oder andere Formen modernen Lebens ab. Er diskutiert mit Freunden, was zu tun ist, wenn ihn die Militärpolizei abholen sollte. „Ich würde einen Hungerstreik beginnen“, sagt er. Wohl nirgendwo sonst im Land sind die vielen Bruchlinien innerhalb der israelischen Gesellschaft greifbarer als hier.
Der Widerspruch einiger ultraorthodoxen Gruppen, von einem Staat Gelder zu erhalten, und diesen im Gegensatz zu säkularen und anderen religiösen Israelis völlig ignorieren, ist in Kriegszeiten offenbar nicht weiter durchzuhalten. Wer Sozialleistungen in Anspruch nehme, müsse auch dem Staat dienen, kritisieren erste Kommentatoren regierungstreuer Medien vorsichtig.
Doch mehr als 3000 Ultraorthodoxe könnten in die Armee Israels (IDF) in dem diesjährigen Rekrutenjahrgang wohl gar nicht aufgenommen werden. Die streng gläubigen Rekruten müssten auch während des Wehrdienstes mehrmals täglich in Synagogen beten, diese müssen in den Kasernen erst noch gebaut werden. Auch das in der IDF übliche Miteinander zwischen Männern und Frauen müsste wohl aus Rücksicht auf die Konservativen angepasst werden.
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