Berlin. Bei den Wahlen im Herbst laufen die Grünen Gefahr, an der Fünf-Prozent-Hürde zu scheitern. Die Gründe dafür liegen auch in Berlin.
Fragt man Madeleine Henfling, wen vom Berliner Spitzenpersonal der Grünen sie im Wahlkampf in Thüringen sehen will, muss sie kurz lachen. „Die kommen alle!“, sagt die grüne Spitzenkandidatin für Thüringen dann und setzt ausdrücklich hinzu, dass sie sie auch alle in Thüringen haben will.
Selbstverständlich ist das nicht. Denn wenige Monate vor den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und in Thüringen stehen die grünen Ost-Landesverbände an der Fünf-Prozent-Klippe – und dorthin gebracht hat sie auch die Bundespolitik.
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Bei der Europawahl landete die Partei in Sachsen und Brandenburg knapp über fünf Prozent, in Thüringen sogar knapp darunter. Selbst in Erfurt, Weimar, Leipzig und Dresden – im Vergleich mit dem Umland grüne Hochburgen – wurde sie deutlich von der AfD abgehängt. Und die jüngsten Umfragen für die Landtagswahlen zeichnen ein ähnliches Bild. Noch vor wenigen Jahren sah sich die Partei kurz davor, eine neue gesamtdeutsche Volkspartei zu werden. Jetzt droht ihr in gleich mehreren Bundesländern der Sturz in die Bedeutungslosigkeit.
Kassem Taher Saleh formuliert es ungeschönt. „Wir kämpfen ums Überleben“, sagt der Grünen-Politiker, der seit 2021 für den Wahlkreis Dresden im Bundestag sitzt. Aus seiner Sicht ist es vor allem ein Thema, das im Moment einen Keil zwischen die Grünen und viele Menschen in Ostdeutschland treibt: der Krieg in der Ukraine und die deutsche Antwort darauf. „Wir haben die Friedensfrage nicht richtig beantwortet“, sagt er.
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Kaum eine andere Partei hat so früh vor Gefahren für die Ukraine gewarnt, die Forderungen nach mehr Waffen für das Land kamen neben der FDP in der Regierung vor allem von den Grünen. Doch der Anteil derjenigen, die finden, dass Deutschland die Ukraine zu stark unterstütze, liegt im Osten deutlich höher als im Westen. Taher Saleh sieht ein Erklärdefizit: „Wir haben viel über Waffenarten gesprochen und zu wenig darüber, warum die Unterstützung für die Ukraine der Weg zum Frieden ist.“ Die Menschen bräuchten aber eine Vision, wie der Weg zum Frieden aussehen könne, das sei entscheidend. „Das BSW“ – Sahra Wagenknechts neue Partei – „hat mit diesem Thema aus dem Stand heraus 12 Prozent geholt“, sagt Taher Saleh.
Die Grünen im Osten: Ein „Image-Problem“, das sich so kurz vor Wahlen kaum beheben lässt
Auch Erik Vollmann, Politikwissenschaftler von der TU Dresden, sieht im Ukraine-Kurs der Partei eine Ursache für den geringen aktuellen Rückhalt im Osten: Die Grünen hätten damit einen „Markenkern“, die Friedenspolitik, stark beschädigt.
Doch das sei nicht der einzige Grund für die Schwäche der Partei im Osten. Die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie, die hohen Energiekosten nach Beginn des Ukrainekrieges, das habe für Unsicherheitsgefühl gesorgt, meint er. „Viele Menschen haben nun materielle Angst vor dem sozioökonomischen Abstieg.“
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Angst, auf die die Grünen nicht immer Antworten haben, die sie stellenweise – etwa mit den spät nachgeschobenen Details zur Heizungsförderung – auch selbst befeuert haben. „Wir sind eine Partei, die Veränderung will und den Leuten etwas abverlangt“, sagt dazu Madeleine Henfling. „Das ist hier nicht einfach. Und wir haben es in der Vergangenheit nicht immer gut hinbekommen, die Bekämpfung der Klimakrise mit der sozialen Frage zu verknüpfen.“
Das Ergebnis sei ein „Image-Problem“, so formuliert es ein Mitglied des Bundesvorstands. Eines, das sich wenige Monate vor der Wahl nur schwer beheben lasse. Die Ursachenforschung nach der Europawahl in der Bundesgeschäftsstelle in Berlin läuft noch, doch bis jetzt scheint sie die Ratslosigkeit an der Spitze der Partei kaum verringert zu haben.
Dabei ist es nicht so, dass die Grünen den Osten wirtschaftlich nicht im Blick hätten. Seitenweise kann das grün geführte Bundeswirtschaftsministerium Beispiele vorlegen für große und kleine Projekte, von denen der Osten profitiert. Milliarden Euro an Förderung hat das Haus nach Magdeburg und Dresden geleitet, um dort die Ansiedlung der Chipfabriken von Intel und TSMC möglich zu machen. Auch das kommende Aus der Braunkohle in der Lausitz und im mitteldeutschen Revier wird in den Regionen mit Milliarden abgefedert werden.
Robert Habeck sieht den Osten als Zugpferd der wirtschaftlichen Erholung
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck selbst sieht den Osten als ein Zugpferd für die deutsche Wirtschaft insgesamt. „Klar, es gibt noch viel tun“, sagt er dieser Redaktion. Aber die Wirtschaft komme langsam aus der Krise – gezogen derzeit vom Osten. „Und das liegt auch maßgeblich daran, dass sich viele Menschen in den Betrieben und Regionen einbringen, selbst einen Kopf machen, wie man neue Wege gehen kann, und sich kümmern.“ Doch in Zugkraft für die Grünen will sich das vor Ort bislang nicht übersetzen.
Ein einfaches Pflaster war Ostdeutschland für die Partei nie, obwohl eine der Wurzeln der gesamtdeutschen Grünen das ostdeutsche Bündnis 90 ist, das sie noch immer im Namen tragen. Wahrgenommen werden sie häufig trotzdem als westdeutsch geprägte Partei.
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Die beiden prominentesten Gesichter, Robert Habeck und Annalena Baerbock, haben beide westdeutsche Biografien, auch wenn Baerbocks Wahlkreis in Potsdam liegt. Die Parteispitze kommt aus Baden-Württemberg (Ricarda Lang) und Hessen (Omid Nouripour).
Auch strukturell sind die Grünen in den ostdeutschen Flächenländern deutlich schwächer aufgestellt: In Sachsen etwa hat die Partei knapp 3900 Mitglieder. Zum Vergleich: In Schleswig-Holstein, wo eine Million Menschen weniger wohnen, sind es 6000.
CDU-Chef Merz appelliert an Grünen-Anhänger
Die Landesverbände sind nicht nur kleiner als in westdeutschen Bundesländern, sie stehen auch unter großem Druck. Im Europa-Wahlkampf machten immer wieder Übergriffe auf Wahlkämpfer und -kämpferinnen der Partei Schlagzeilen. Die Grünen, schreibt Politikwissenschaftler Vollmann, seien die Partei, die zuletzt mit Abstand die meisten Angriffe auf ihre Vertretenden und Wahlkämpfer gemeldet habe. Danach komme mit großem Abstand die AfD. Die Ökopartei stehe also „auch empirisch durchaus im Kern einer gewissen gesellschaftlichen Polarisierung“, erklärt Vollmann. Auch die Grünen betonen diese Erzählung: Wir auf der einen Seite, für die Demokratie. Die AfD dagegen auf der anderen.
Eine ähnliche Geschichte erzählen allerdings auch andere. Bei vergangenen Landtagswahlen in Ostdeutschland war zu beobachten, dass von der Sorge, die AfD könnte stärkste Kraft werden, vor allem die Parteien profitierten, die selbst Chancen hatten, stärkste Kraft zu werden. Und vor allem die Christdemokraten setzen darauf, dass sich ein solcher Effekt wiederholt. Diejenigen, die erwägen würden, SPD, FDP oder Grüne zu wählen, „die allesamt einstellig sind und möglicherweise alle drei unter fünf Prozent bleiben“, sollten doch stattdessen besser die CDU wählen, appellierte CDU-Chef Friedrich Merz am Wochenende.
Sollte dieser Appell verfangen, könnte er die Grünen in den Ostländern von der Fünf-Prozent-Klippe schubsen. „Wenn die kleinen Parteien nicht mehr Teil des Landtags sind, wird die AfD gestärkt“, sagt dagegen Madeleine Henfling, „das müssen wir den Leuten klarmachen.“ Die momentanen Umfragen seien „eine Motivation“ – „die Fünf-Prozent-Hürde ist ein schaffbares Ziel“. In Thüringen haben sie noch rund neun Wochen Zeit, dieses Ziel zu erreichen.