Hamburg. Welche Gruppe am größten ist, welche am gewalttätigsten. Und: Cyberattacken steigen massiv seit dem Angriffskrieg Russlands.
Um kurz nach 12 Uhr am Montagmittag musste Torsten Voß erst einmal seine Brille aufsetzen. Der Leiter des Landesamtes für Verfassungsschutz saß im vollen Raum 151 der Innenbehörde neben Innensenator Andy Grote (SPD) und schlug den üppigen Jahresbericht des Verfassungsschutzes auf. 184 Seiten dick, mit jede Menge Zahlen, die vor allem eines verdeutlichen sollten: die geballte Gefahr für die Demokratie. Von links, von rechts, von Islamisten,Reichsbürgern, Verschwörungstheoretikern und vielen weiteren. „Wir hatten gut zu tun“, fasste Voß den pickepackevollen Jahresbericht 2022 in nur fünf Wörtern treffend zusammen.
„Der neue Verfassungsschutzbericht erscheint in einer Zeit, in der wir uns nach wie vor im Krisenmodus befinden. Unsere Demokratie wird von vielen Seiten bedroht – eine Entspannung ist derzeit nicht in Sicht“, sagte auch Innensenator Grote direkt zu Beginn – und wiederholte erneut, dass aus seiner Sicht die größte Gefahr für Deutschland von Rechtsextremisten und Rechtsterroristen ausgehen würde. Mit 380 Personen stünden in Hamburg derzeit so viele Rechtsextreme unter Beobachtung wie noch nie. Auch die Zahl von rechtsextremistischen Gewaltdelikten war 2022 mit 56 auf Rekordniveau.
Verfassungsschutz: Größte Gefahr in Hamburg von rechts
Es dauerte nicht lange, ehe aus dem Lager der Opposition Kritik an Grotes Conclusio aufkam. „Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache: Islamische und linke Extremisten sind eindeutig die größte Gefahr – was Personenpotenzial und Gewaltorientierung betrifft – für unsere Demokratie“, sagte Hamburgs AfD-Fraktionschef Dirk Nockemann. „Grotes Mantra, dass der Rechtsextremismus in unserer Stadt die größte Gefahr sei, ist mit diesen Zahlen für Hamburg wieder einmal widerlegt.“
Die Verfassungsschützer zählten 1130 Linksextremisten, insgesamt wurden 23 linksextremistisch motivierte Gewaltdelikte begangen. Mit anderen Worten: Rechtsextreme sind deutlich weniger, aber im Verhältnis sehr viel gewalttätiger. Und was Nockemann nicht sagte: Die Junge Alternative, die AfD-Jugendorganisation, ist selbst weiterhin im Fokus des Verfassungsschutzes.
Dass ausgerechnet Grote, der selbst schon einmal Opfer eines linksextremistischen Anschlags war, auf dem linken Auge blind sei, scheint ohnehin eine sehr gewagte These zu sein. Und tatsächlich haben der SPD-Politiker und Hamburgs Verfassungsschutzchef Voß auch explizit die neue Gefahr von links erläutert. So habe es laut Voß einen Strategiewechsel unter linksextremen Gewalttätern gegeben. Die linksradikale Szene verübe nicht mehr vorrangig bei Demonstrationen Gewalttaten, sondern greife vermehrt Einzelpersonen an.
Voß: Linksextremismus auf dem Weg zum Linksterrorismus
Bestes Beispiel: Die Linksextremisten Lina E. (28), die in der vergangenen Woche zu fünf Jahren und drei Monaten Haft wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung verurteilt wurde. Sie und drei Mitangeklagte hatten zwischen 2018 und 2020 mindestens sechs Überfälle auf Rechtsextreme begangen. Voß warnte sogar explizit davor, dass auch in Hamburg der Linksextremismus auf dem Weg zum Linksterrorismus sei.
Doch die Zeiten, in denen man Feinde der Demokratie ganz simpel in rechts und links einteilen konnte, sind ohnehin längst vorbei. Deswegen fasst der Verfassungsschutz Hamburg auch Reichsbürger, Selbstverwalter und Delegitimierer unter der Überschrift „Verschwörungsideologischer Extremismus“ zusammen. 340 zählten die Beamten im vergangenen Jahr in Hamburg, was ein neuer Höchststand bedeutet. Bei ihnen hätten sich die Aktivitäten überwiegend von der Straße ins Internet verlagert.
Grote: Immer mehr Cyberattacken aus Russland
Der virtuelle Raum bereitet den Verfassungsschützern ohnehin immer größere Sorgen. Dort würden auch seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine verstärkt pro-russische Narrative verbreitet. Laut Grote würden extremistische Verschwörungsideologen Themen wie den Krieg und die Folgen, zum Beispiel für die Preisentwicklung, für ihre Zwecke missbrauchen und die Legitimität der demokratischen Institutionen untergraben. „Gleichzeitig ist unser Verfassungsschutz so stark wie nie zuvor gefordert, mögliche nachrichtendienstlich gesteuerte Cyberattacken aufzudecken, zum Beispiel aus Russland“, sagte der Senator.
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„Angesichts der gefährlichen internationalen Weltlage müssen die Präventionsmaßnahmen gegen Cyberangriffe fremder Mächte gestärkt werden“, forderte im Anschluss an die öffentliche Präsentation auch die FDP-Abgeordnete Anna von Treuenfels-Frowein. „Der Verfassungsschutz ist wichtiger denn je, um die wachsenden Bedrohungen der Demokratie von mehreren Seiten zu bekämpfen.“
Gladiator: Islamismus muss stärker bekämpft werden
Eine der Seiten, die in der Bedeutung erneut zugenommen hat, ist die islamistische Szene. Diese ist in Hamburg im vergangenen Jahr deutlich gewachsen. Von den ihr zugerechneten 1755 Personen gelten 82 Prozent als gewaltorientiert. 2021 waren in Hamburg „nur“ 1650 Islamisten gezählt worden.
Deswegen forderte auch Dennis Gladiator, der innenpolitische Sprecher der CDU-Fraktion, dass der Islamismus, „bei dem sich die Radikalisierung verstärkt im Internet und über die sozialen Medien vollzieht“, stärker bekämpft werden müsse. „Es ist unerlässlich, die Fortsetzung des Staatsvertrags mit den muslimischen Verbänden im Hinblick auf die Mitgliedschaft des DITIB-Landesverbandes Hamburg im Verfassungsausschuss sehr kritisch zu beraten“, sagte Gladiator.
Verfassungsschutz: Zahl gewaltorientierter Islamisten hoch wie nie
Tatsächlich ist das Gesamtpotenzial des Islamismus in Hamburg in den vergangenen zehn Jahren kontinuierlich gewachsen. Die Anzahl der gewaltorientierten Islamisten ist mit 1450 so hoch wie noch nie. Auch das Islamische Zentrum Hamburg (IZH) ist laut Verfassungsschutz ideologisch, organisatorisch und personell ein Außenposten des Teheraner Regimes. Das IZH hat allerdings vor dem Verwaltungsgericht gegen diese Einschätzung vor dem Verwaltungsgericht geklagt, ein Urteil wird in drei Wochen erwartet.
Man sei vorsichtig optimistisch, was eine Bestätigung der Einschätzung des Verfassungsschutzes betrifft, sagte Andy Grote. „Aber Sie wissen ja, wie das so ist mit Gerichtsverfahren.“