Hamburg. Vor der furchtbaren Tat bei den Zeugen Jehovas war die Polizei auf das wirre Werk hingewiesen worden. Doch das ging schnell unter.
Polizeipräsident Ralf Martin Meyer war sichtlich angefressen, als er am Dienstag im Rathaus mit Innensenator Andy Grote, Oberstaatsanwalt Arnold Keller und Staatsschutz-Chef Uwe Stockmann Journalisten gegenübersaß.
Es war schwer, nach dem Amoklauf in Alsterdorf, bei der Philipp F. sieben Menschen mit einer legal erworbenen Pistole erschossen hatte, den Standpunkt zu verteidigen, dass aus seiner Sicht die der Polizei unterstellten Waffenbehörde keine Möglichkeit hatte, dem Sportschützen die Genehmigung der Pistole zu verwehren.
Im Mittelpunkt stand die Frage, ob nach dem anonymen Schreiben, das den Geisteszustand von Philipp F. in Zweifel zog, und angesichts dessen religiös wirren Buchs über die „Wahrheit über Gott, Jesus und Satan“ nicht mehr hätte getan werden müssen.
Amoklauf in Hamburg: Philipp F. beantragte die Waffe Ende Oktober
Meyer skizzierte noch einmal den Ablauf der Genehmigung, die dazu führte, dass Philipp F. eine halbautomatische Pistole vom Typ Heckler & Koch 30PF erwerben konnte. Demnach hatte der 35-Jährige am 27. Oktober 2022 persönlich an der Waffendienststelle am Grünen Deich die Waffenbesitzkarte beantragt.
Am 3. November ging laut Meyer die Bescheinigung vom Bund Deutscher Sportschützen bei der Dienststelle ein, mit der der Bedarf an einer Schusswaffe dokumentiert wurde. Am Tag danach habe man die Zuverlässigkeitsprüfung gestartet.
So wurde auch beim Verfassungsschutz und der Staatsschutzabteilung des Landeskriminalamts über Erkenntnis nachgefragt. Am 14. November gab es die Rückmeldung des Verfassungsschutzes, Philipp F. sei dort nicht bekannt. Am 1. Dezember hieß es vom Staatsschutz, dass es auch dort keine Erkenntnisse über Philipp F. gebe.
Philipp F. erfüllte gesetzliche Anforderungen für die Pistole
Dabei wurden laut Meyer nicht nur die Erkenntnisse des Staatsschutzes, sondern auch alle anderen bei der Polizei vorhandenen Datenbanken abgefragt. Philipp F. war lediglich in zwei Fällen als Anzeigenerstatter aktenkundig. In beiden Fällen ging es um Betrug, einmal gegen eine Immobilienfirma, einmal gegen einen ehemaligen Arbeitgeber.
Am 6. Dezember wurde ein Voreintrag bei der Waffenbehörde für den Besitz einer halbautomatischen Pistole vorgenommen. Am 12. Dezember kaufte sich Philipp F. die Waffe. Einen Tag später kam er erneut zur Waffenbehörde und ließ die Waffe eintragen.
Auch hier gab es laut Meyer ein persönliches, etwa 15-minütiges Gespräch mit einem anderen Sachbearbeiter, bei dem ebenfalls keine Auffälligkeiten festgestellt wurden. „Philipp F. hat alle gesetzlichen Anforderungen erfüllt“, sagt Meyer. „Wenn diese Voraussetzungen vorliegen, gibt es einen gesetzlichen Anspruch auf die Erlaubnis.“ Die Behörde habe dann kein Ermessen mehr.
Beamte fanden das Buch von Philipp F. online nicht
Am 24. Januar sei dann das anonyme Schreiben eingegangen mit der Bitte, wegen „einer möglichen psychischen Erkrankung“ eine Kontrolle vorzunehmen. Dabei sei auch davon die Rede gewesen, dass Philipp F. seine Wahnvorstellungen in einem Buch verarbeitet habe.
„Der Titel des Buches wurde nicht genannt“, so Meyer. Noch einmal wurden mögliche polizeiliche Erkenntnisse abgefragt. Erneut verlief die Abfrage negativ. Beamte der Waffendienststelle googelten Philipp F. zudem, fanden aber unter seinem Namen und dem Begriff „Buch“ kein Ergebnis.
Am 7. Februar kam es schließlich zum Hausbesuch. Die Waffe und drei Magazine hätten ordnungsgemäß in einem in einem Kleiderschrank versteckten Safe gelegen. Nur eine Patrone habe sich ungesichert in dem Apartment des Mannes befunden, bei dem sonst keine Auffälligkeiten festgestellt wurden. So blieb es deswegen bei einer mündlichen Verwarnung.
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„Der Waffendienststelle kann ich keinen Vorwurf machen“, ist Meyers Resümee. Ein anonymer Hinweis sei nicht tauglich, um nach der Kontrolle weitere Maßnahmen durchzuführen.
Philipp F. wurde von der Polizei nicht auf das Buch angesprochen
CDU-Innenpolitiker Dennis Gladiator sieht das anders. „Wurde wirklich intensiv genug recherchiert? Warum wurde Philipp F. beim Vor-Ort-Termin nicht auf das Buch angesprochen?“, fragt Gladiator. Darauf habe man, so hatte Meyer schon im Vorwege gesagt, verzichtet, um den anonymen Hinweisgeber zu schützen.
Das wiederum findet Gladiator „skandalös“. „Jetzt auch noch dem anonymen Hinweisgeber einen Vorwurf zu machen ist eine absurde Verteidigungstaktik“, sagte er. „Wenn weiterhin die Meinung vertreten wird, dass ein anonymer Hinweis nicht ausreicht, um eine rechtssicherere Überprüfung sicherzustellen, dann stimmt grundsätzlich etwas nicht.“ Er sieht bei dem Fall eine „schwere Recherchepanne“.
Zudem legt Gladiator Senator Grote nahe, im Zusammenhang mit dem Genehmigungsverfahren sein Amt aufzugeben. „Es sind schon Innenminister für weniger aus Verantwortung zurückgetreten“, so Gladiator.
Amoklauf in Hamburg: Trauerfeier für die Opfer
Unklar ist weiterhin das genaue Motiv für den Amoklauf „Darauf liegt der Fokus der Ermittlungen“, sagt Staatsschutz-Chef Stockmann. Für diese ist eine Soko „Deelböge“ eingerichtet worden. Man habe mittlerweile mehr als 100 Hinweise erhalten und mehrere Dutzend Zeugen vernommen.
Laut Oberstaatsanwalt Keller wird auch geprüft, ob es im Zusammenhang mit der Tat strafrechtlich relevante Verfehlungen Dritter gebe. „Es gibt bislang aber keine Ermittlungen gegen Personen“, so Keller.
Der Opfer soll am Sonntagabend bei einem Gottesdienst gedacht werden. Die ökumenische Trauerfeier werde von der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen, der Nordkirche und dem Erzbistum Hamburg veranstaltet und derzeit vorbereitet, sagte Senatssprecher Marcel Schweitzer am Dienstag.
Auch Zeugen Jehovas zum Gedenken eingeladen
Ein Vertreter der Zeugen Jehovas zeigte sich empört, dass weder die Glaubensgemeinschaft noch die Opfer oder deren Angehörigen in die Planungen einbezogen worden seien. Schweitzer betonte, dass die Zeugen Jehovas zu der Feier eingeladen würden.