Hamburg. Sachbearbeiter googelten erfolglos nach dem Werk. CDU spricht von „schwerer Recherchepanne“. Soko „Deelböge“ eingerichtet.

Hamburgs Polizeipräsident Ralf Martin Meyer sieht im Zusammenhang mit der Amoktat bei den Zeugen Jehovas mit acht Todesopfern weiterhin keine Verfehlungen seitens der Waffenbehörde. Die Behörde habe nach Erhalt eines anonymen Hinweises auf eine mögliche psychische Erkrankung und Gefährlichkeit des späteren Täters Philipp F. im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten gehandelt und dabei keine Auffälligkeiten festgestellt, sagte er am Dienstag im Rahmen einer Landespressekonferenz im Hamburger Rathaus.

Obwohl Recherchen der Beamten zu einem Buch des Täters, in dem dieser wirre religiöse Thesen unter anderem zum Judenmord durch die Nationalsozialisten vertritt, zu keinem Ergebnis geführt hätten, könne er den Mitarbeitern „keine Vorwürfe machen“, sagte Meyer. In dem anonymen Hinweisschreiben war seinen Angaben zufolge auf das Buch hingewiesen worden. Die Beamten hätten bei einer Google-Recherche aber lediglich den Namen des Täters und den Suchbegriff „Buch“ eingegeben und dabei kein Ergebnis erhalten.

Es sei richtig, „dass wir nach einer solchen Tat kritisch hinterfragen, hat die Waffenbehörde hier alles richtig gemacht“, sagte Innensenator Andy Grote (SPD). „Nach allem, was ich bisher gehört habe, habe ich keinen Anlass an der Bewertung zu zweifeln, dass hier ordentlich gearbeitet wurde.“

Hamburgs Polizeipräsident Ralf Martin Meyer (l.) und Innensenator Andy Grote (SPD) am Tatort des Amoklaufs an der Deelböge. Am Dienstag informieren sie über neue Erkenntnisse zur Tat von Philipp F. bei den Zeugen Jehovas.
Hamburgs Polizeipräsident Ralf Martin Meyer (l.) und Innensenator Andy Grote (SPD) am Tatort des Amoklaufs an der Deelböge. Am Dienstag informierten sie über neue Erkenntnisse zur Tat von Philipp F. bei den Zeugen Jehovas. © Imago/Hanno Bode | Unbekannt

Am vergangenen Donnerstagabend waren in den Räumen der Zeugen Jehovas an der Straße Deelböge insgesamt 135 Schüsse gefallen, als der mutmaßliche Attentäter Philipp F. (35) den Königreichssaal stürmte. Vier Männer, zwei Frauen und ein ungeborenes Kind verloren ihr Leben, auch Philipp F. wurde tot aufgefunden. Neun Menschen wurden verletzt, bei einem Opfern ist der Zustand Stand Dienstag weiter kritisch.

Abendblatt.de hat die heutige Pressekonferenz begleitet:

  • Amoklauf in Hamburg: Soko „Deelböge“ eingerichtet
  • CDU über Suche nach Buch: „schwere Recherchepanne"
  • Philipp F. und die Zeugen Jehovas: Widersprüchliche Aussagen
  • Staatsanwaltschaft hat Philipp F.s Buch nicht gelesen
  • Hätte das Auffinden des Buches etwas bewirkt?
  • Gedenkgottesdienst für Opfer des Amoklaufs
  • Experten: Philipp F.s Buch bei Google nicht auffindbar
  • Weitere Quellen für Hinweise auf die Amoktat?
  • Warum die Beamten Philipp F. nicht auf das Buch ansprachen
  • Die Chronologie: So lief Philipp F.s Waffenkauf ab
  • Ein Opfer schwebt weiter in Lebensgefahr
  • Philipp F. soll fachmedizinisch bewertet werden
  • Ermittler stellen 60 Pistolen-Magazine sicher
  • Diese Informationen haben die Ermittler zu Philipp F.
  • Philipp F.s Umgang mit Waffen wird weiter analysiert
  • Hass auf Zeugen Jehovas als Tatmotiv?
  • Staatsanwalt: Philipp F.s Akten waren „leer“
  • Ermittler überprüfen Hamburger Anzeigen von Philipp F.
  • Oberstaatsanwalt: Keine Hinweise auf Mittäter
  • Staatsanwalt: „Grauenhafte Bilder“ für die Ermittler
  • Grote: Rund 20 Menschen wurde das Leben gerettet
  • Übersah die Polizei Philipp F.s verdächtiges Buch?
  • Amoklauf von Philipp F.: Debatte um Waffenrecht
  • Schöpfte Polizei alle Möglichkeiten gegen Philipp F. aus?

Amoklauf in Hamburg: Soko „Deelböge“ eingerichtet

Auch nach der Pressekonferenz am Dienstag sind noch zahlreiche Fragen offen. So ist unter anderem weiterhin das genaue Motiv für den Amoklauf unklar. „Darauf liegt der Fokus der Ermittlungen“, sagt Staatsschutz-Chef Stockmann. Für diese ist eine Soko „Deelböge“ eingerichtet worden. Man habe mittlerweile mehr als 100 Hinweise erhalten und mehrere Dutzend Zeugen vernommen.

CDU-Innenexperte über Suche nach Buch: „schwere Recherchepanne"

Der Innenexperte der CDU-Bürgerschaftsfraktion Dennis Gladiator sprach nach dem auf der Pressekonferenz vorgestellten Ermittlungsstand von einer „schweren Recherchepanne mit fatalen Folgen“. Der Ruf von Grote und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) nach einer Verschärfung des Waffenrechts sei grundsätzlich sinnvoll, „steht aber im Hamburger Fall nicht im Mittelpunkt, da nicht einmal das bestehende Recht ausgeschöpft wurde“, sagte er.

„Eine einfache Internetrecherche hätte ausgereicht, um das vom Amokläufer Philipp F. verfasstes Buch voller Hass-Tiraden und antisemitischer Äußerungen auf dessen Homepage oder im Online-Handel finden zu können.“

Eine psychologische Überprüfung von Philipp F. sei aufgrund der unzureichenden Recherche unterblieben, sagte auch der Innenexperte der Linken, Deniz Celik. „Es steht die Frage im Raum, ob die schreckliche Tat nicht hätte verhindert werden können, wenn die Behörde anständig recherchiert hätte.“

Philipp F. und die Zeugen Jehovas: Widersprüchliche Aussagen

Hat der Amokschütze die Zeugen Jehovas freiwillig verlassen oder wurde er von diesen ausgeschlossen? Zum Verhältnis von Philipp F. und der Glaubensgemeinschaft haben die Ermittler nach Angaben von Staatsanwalt Arnold Keller wiederholt widersprüchliche Angaben erhalten. Das Thema werde „sorgsam aufbereitet“, sagt Keller: „Ich bin heute nicht in der Lage, darüber zu kommunizieren.“

Vor der Tat wiederum sei – auch nach Hinweisen in dem anonymen Schreiben – nach Auskunft von Polizeipräsident Meyer kein Kontakt mit den Zeugen Jehovas oder früheren Arbeitgebern von Philipp F. aufgenommen worden. Allgemein wird das Tatgeschehen vom vergangenen Donnerstagabend selbst derzeit „minutiös rekonstruiert“, wie Keller anmerkt.

Staatsanwaltschaft hat Philipp F.s Buch nicht gelesen

Arnold Keller, leitender Oberstaatsanwalt bei der Generalstaatsanwaltschaft, gibt zu Protokoll, Philipp F.s Buch Stand jetzt weder „physisch“ vorliegen, noch gelesen zu haben. „Ich könnte Ihnen jetzt sagen, was ich die letzten viereinhalb Tage gemacht habe, und dazu gehört nicht, das Buch gelesen zu haben.“

Die Strafverfolgungsbehörden hätten zunächst andere Aufgaben. „Dazu gehört nicht, zu beurteilen, ob ein Buch verwaltungsrechtlich Ausgangspunkt gewesen wäre, waffenrechtliche Erlaubnisse zu überprüfen oder zu widerrufen.“

Zum Zeitpunkt der Erteilung der Waffenerlaubnis im November (siehe auch diesen Eintrag) sei das Buch zudem noch gar nicht geschrieben beziehungsweise zumindest nicht vermarktet worden. 

Der Hamburger Polizei wiederum liegt Philipp F.s Werk seit vergangenem Freitag, dem 10. März, in „elektronischer Form“ und „unterschiedlichen Entwicklungsstadien“ vor, sagt Uwe Stockmann, stellvertretender Leiter des Staatsschutzes im ermittelnden Landeskriminalamt. Seit dem 11. März liege es in „physikalischer Form“ vor. Die jeweilige Auswertung dauere an.

„Falls dieses Buch im Ergebnis eine Beanstandung oder eine wie auch immer geartete radikale Einstellung als Tatsache belegt, in Kombination mit einer polizeilichen Befassung mit diesem Buch“, wäre „natürlich“ eine Kontrollmitteilung an die Waffenbehörde auszulösen, so Stockmann.

Er selbst habe es in Auszügen bereits gelesen. „Die Inhalte kann ich Ihnen hier noch nicht wiedergeben, weil ich sie erstens nicht auswendig draufhabe und sie zweitens noch bewertet werden müssen.“ Dies werde durch fachkundiges Personal erfolgen.

Grote: Solche Waffen bei Sportschützen nicht unüblich

Innensenator Andy Grote betont noch einmal, dass das Waffengesetz derzeit keine Obergrenze für den Besitz von Munition vorsehe. Dieser Umstand könne „waffenrechtlich“ durchaus noch einmal diskutiert werden, so der SPD-Politiker.

Bei der Kontrolle am 7. Februar sei bei Philipp F. nur „ein begrenzter Munitionsvorrat“ gefunden worden. „Die Menge, die im Nachhinein festgestellt wurde, war ja deutlich höher.“ Zur Pistole des Typs Heckler & Koch sagt Grote: „Halbautomatische Waffen sind bei Sportschützen nicht unüblich.“

Hätte das Auffinden des Buches etwas bewirkt?

Wäre Philipp F.s Buch mit dem Titel „Die Wahrheit über Gott, Jesus Christus und Satan“ gefunden und gelesen worden, hätte laut Polizeipräsident Meyer nach Paragraf 6 des Waffengesetzes ein psychologisches Gutachten angestoßen werden können.

Meyer: „Ob es dazu gekommen und was bei dem Geschick des Mannes, seine Krankheit zu verbergen, das Ergebnis gewesen wäre, vermag glaube ich niemand zu sagen.“

Die Auswertung des Buches, das bei Amazon am 20. Dezember gelistet wurde und unter anderem Passagen zu Adolf Hitler als „Werkzeug Christi“ beinhaltet, dauert nach Angaben von Staatsanwalt Arnold Keller an. Stand heute werde aber nicht wegen Rechtsextremismus als Tatmotiv ermittelt. Keller: „Nicht jedes Momentum, das mit dieser Begrifflichkeit arbeitet, ist ein starkes Indiz für Rechtsextremismus.“

Gedenkgottesdienst für Opfer des Amoklaufs

Am Sonntagabend soll bei einem Gottesdienst der Opfer der Amoktat gedacht werden. Die ökumenische Trauerfeier werde von der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen, der Nordkirche und dem Erzbistum Hamburg veranstaltet und derzeit vorbereitet, sagt Senatssprecher Marcel Schweitzer.

Ein Vertreter der Zeugen Jehovas zeigt sich empört, dass weder die Glaubensgemeinschaft noch die Opfer oder deren Angehörigen in die Planungen einbezogen worden seien. Schweitzer betont, dass die Zeugen Jehovas zu der Feier eingeladen würden. Besonders geschützt würde die Gemeinde derzeit nicht, sagt Polizeipräsident Meyer auf Nachfrage.

Experten bestätigen: Philipp F.s Buch bei Google nicht auffindbar

Meyer geht auf Nachfrage noch einmal auf das Vorgehen der sachbearbeitenden Mitarbeitenden bei der Waffenbehörde ein, in Folge des anonymen Hinweises nach Philipp F. und dessen Buch zu googeln – und dabei offensichtlich nicht fündig geworden zu sein (siehe auch diesen Eintrag).

Der heutige Such-Algorithmus sei nicht vergleichbar mit dem Ende Januar, erläutert Meyer: „Da kam man in der Tat nicht auf diesen Namen.“ Er schließe jedoch nicht aus, dass es „irgendwelche Quellen“ oder Suchmaschinen gebe, bei denen dies „irgendwann auf Seite 700“ passiere.

„Die Mitarbeiter der Waffenbehörde sind keine OSINT-Recherche-Experten, sondern haben das im Rahmen ihrer Möglichkeiten getan“, so Meyer. Experten hätten bestätigt, dass man mit den beiden Suchbegriffen „Philipp F.“ und „Buch“ nicht zu einem Hinweis auf das Werk hätte stoßen können. Auch bei „längerem Runterscrollen der Seiten“.

Die Sachbearbeiter der Hamburger Waffenbehörde hätten letztlich sogar mehr gemacht als andere Waffenbehörden und „mehr, als man ihnen zuschreiben würde“, so Meyer. Innensenator Grote wiederum bezeichnet es als dennoch „richtig, nach einer solchen Tat noch einmal kritisch zu hinterfragen, ob die Waffenbehörde hier alles richtig gemacht hat“. Letztendlich handele es sich jedoch um keine Ermittlungsbehörde, sondern um eine Verwaltungsbehörde.

Gleichwohl habe es in der Vergangenheit Fälle gegeben, in denen nach anonymen Hinweisen Waffenbesitzer überprüft und daraufhin die Erlaubnis aufgrund von Auffälligkeiten entzogen worden seien, sagt Grote: „Die Instrumente sind nicht untauglich.“

Weitere Hinweise auf mögliche Amoktat von Philipp F.?

„So schwer die Situation für den Hinweisgeber jetzt auch sein möge, ich hätte mir gewünscht, dass er andere Wege beschritten hätte als einen schlichten anonymen Hinweis“, sagt Polizeipräsident Meyer. „Zudem weist der aktuelle Ermittlungsstand inzwischen auf weitere Quellen hin, bei denen konkrete Hinweise auf die Tat vorgelegen haben könnten.“ Dazu lasse sich zum jetzigen Zeitpunkt allerdings noch nichts Genaues sagen. „Die Ermittlungen dazu dauern an“, sagt Meyer. Auf Nachfrage deutet er zumindest an, dass es Hinweisgeber aus dem Umfeld der Zeugen Jehovas gegeben haben könnte.

Auch für die Zukunft appelliert Meyer an mögliche Hinweisgeber: „Rufen Sie die Behörden mit Namen und konkretem Hinweis an und sagen, was sie zu sagen haben. Dann kann wirklich etwas passieren, und nicht mit einem anonymen Schreiben – das reicht schlicht nicht.“ Ob der Absender des anonymen Schreibens im Fall Philipp F. den Ermittlern inzwischen bekannt ist, wollen die Beteiligten nicht bekanntgeben. Die Frage, ob es helfen würde, wenn sich der Hinweisgeber melden würde, beantwortet Meyer so: „Es würde helfen, ja.“

Sachbearbeiter haben nach Philipp F.s Buch gegoogelt

Am 24. Januar ging bei der Waffenbehörde ein anonymes Schreiben ein. Der Verfasser habe darin die Sorge über eine mögliche psychische Erkrankung von Philipp F. und die Bitte um eine entsprechende Kontrolle geäußert, so Meyer. Dabei hätte geprüft werden sollen, ob der registrierte Sportschütze die Waffe ordnungsgemäß im Safe verwahre und in der geistigen Verfassung sei, Halter einer Pistole zu sein.

Das Schreiben habe laut Meyer auch einen Hinweis darauf erhalten, dass eine ärztliche Diagnose einer möglichen psychischen Erkrankung auch aufgrund einer Weigerung von Philipp F. ausgeblieben sein könne. „Seine Wahnvorstellungen habe F. in einem Buch verarbeitet, welches er aktuell vermarkten will“, zitiert Meyer aus dem anonymen Brief. Der Buchtitel sei jedoch nicht genannt worden.

Die Waffenbehörde entschied sich zur einer unangekündigten Aufbewahrungskontrolle. Vorab seien bei der Polizei noch einmal etwaige psychische Auffälligkeiten Philipp F.s abgefragt worden – ergebnislos. Daraufhin habe die zuständige Sachbearbeitung eine Internetrecherche vorgenommen und sich erste persönliche Eindrücke verschafft. Meyer: „Es wurden zum Beruf und weiteren Interessen von Philipp F. recherchiert.“

Ende Januar sei über Google auch das Buch in Augenschein genommen worden. Meyer: „Da nur der Name von Philipp F. und die Tatsache, dass er ein Buch geschrieben haben soll, bekannt waren, wurden diese beiden Suchbegriffe – Name des F. und 'Buch' – in die Google-Recherche eingegeben. Das Ergebnis verlief negativ.“ Auch auf der Internetseite von Philipp F., auf der er sich als Unternehmensberater präsentierte, habe es keinen Hinweis auf das Buch gegeben.

Am 7. Februar sei Philipp F. dann in seiner Wohnung unangemeldet durch zwei Polizeivollzugsbeamte der Waffenbehörde 20 bis 30 Minuten lang kontrolliert worden. Dabei sei die Aufbewahrung von Waffe und Munition überprüft und Philipp F. in ein „allgemeines Gespräch verwickelt“ worden. „Dabei wurden die Pistole und zwei bis drei Magazine mit dazugehöriger Munition im Safe ordnungsgemäß festgestellt. Beides entsprach grundsätzlich den entsprechenden Anforderungen.“

Der Safe habe sich zudem in einem „nicht einsehbaren Regal“ eines Kleiderschrankes befunden. Meyer: „Auf dem Safe lag eine einzelne Patrone.“ Darauf sei Philipp F. von den Beamten mündlich verwarnt worden. „Philipp F. gab sich schnell einsichtig und bedauerte die Situation.“ Diese Ordnungswidrigkeit nach Paragraf 13, Absatz 2 der Waffenverordnung sei in einem Ermessensspielraum zu bewerten. „Eine mündliche Verwarnung ist angemessen“, so Meyer.

Insgesamt hätten die Beamten während der Kontrolle weder Anzeichen auf eine mögliche psychische Erkrankung des 35-Jährigen festgestellt, noch „objektivierbare Tatsachen“, die nach Paragraf 6, Absatz 2 des Waffengesetzes die Anordnung eines psychologischen Gutachtens oder den Entzug der Schusswaffe hätten begründen können. Ein anonymes Schreiben könne „maximal als Indiz“ bewertet werden und reiche rechtlich nicht aus.

Auf das von ihm verfasste Buch, das der Hinweisgeber erwähnte, sei Philipp F. während der Kontrolle nicht angesprochen worden, ergänzt Meyer auf Nachfrage. Das Schreiben habe darauf hingewiesen, „dass man möglichst eine Routinekontrolle machen solle, um die Person nicht zu verunsichern oder misstrauisch zu machen“. Deshalb sei auf eine gezielte Nachfrage zu dem Buch verzichtet worden.

„Es ging darum, die Gesamtsituation einzuschätzen. Da hätte die Frage zu einem frühen Zeitpunkt die neutrale Einschätzung durch der Beamten mindestens getrübt oder verändert“, so Meyer.

Die Waffenbehörde habe im Rahmen ihrer rechtlichen Möglichkeiten gehandelt. Deshalb könne er ihr keinen Vorwurf machen, betont der Polizeipräsident. Dennoch merkt Ralf Martin Meyer an, dass mit dem Wissen von heute möglicherweise nicht alles richtig gemacht wurde: „Das getan zu haben, was rechtlich möglich ist, muss nicht gleichzeitig automatisch das Richtige sein.“

So lief Philipp F.s Waffenkauf ab

Polizeipräsident Ralf Martin Meyer führt die Chronologie rund um den Waffenerwerb Philipp F.s aus. Demnach habe der spätere Amokschütze am 27. Oktober 2022 bei der Waffenbehörde am Grünen Deich in Hammerbrook persönlich eine Waffenbesitzkarte beantragt. Meyer: „Im Rahmen des Gesprächs mit dem Sachbearbeiter wurden keine Auffälligkeiten festgestellt.“

Das konkrete Bedürfnis für den Besitz einer Waffe habe Sportschütze Philipp F. am 3. November durch eine Bescheinigung vom Bund Deutscher Sportschützen nachweisen können. Einen Tag darauf sei laut Meyer die Zuverlässigkeitsprüfung gestartet worden (OSINT-Abfrage), unter anderem durch das Landesamt für Verfassungsschutz. Dieses habe am 14. November rückgemeldet, dass keine Erkenntnisse über Philipp F. vorlägen.

Auch der Staatsschutz (LKA 7) habe am 11. Dezember schließlich keine Auffälligkeiten gemeldet, die gegen einen Waffenbesitz durch Philipp F. hätten sprechen können. Medienberichte, wonach Philipp F. bei Rauschgiftdelikten in Bayern aufgefallen sein könnte, habe sich laut Meyer nachträglich als falsch herausgestellt: „Es handelt sich tatsächlich um eine Person mit sehr ähnlichen Namensbestandteilen, aber um eine andere Person.“

Am 6. Dezember erfolgte ein sogenannter „Voreintrag“ in die Waffenbesitzkarte für eine halbautomatische Pistole, Kaliber 9 mm Luger. Diese Waffe habe Philipp F. schließlich am 12. Dezember erworben, woraufhin der endgültige Eintrag in die Waffenbesitzkarte folgte. Meyer: „Dafür war es erforderlich, dass Philipp F. am 13. Dezember ein zweites Mal bei der Waffenbehörde erschien.“ Nach einem zehn- bis 15-minütigen Gespräch habe auch jener Sachbearbeiter keinen Anlass für einen Vermerk gesehen.

Schließlich habe Philipp F. auch alle nach Paragraf §14 des Waffengesetzes für einen Sportschützen relevanten Voraussetzungen erfüllt:

  • mindestens zwölf Monate aktiver Schießsport in einem Verein
  • mindestens einmal im Monat Schießtraining
  • mindestens 18-mal Schießtraining innerhalb dieser zwölf Monate
  • die erworbene Waffe muss für eine Sportdisziplin erforderlich und zugelassen sein

Bei Erfüllung der Voraussetzungen ergebe sich ein gesetzlicher Anspruch auf den Besitz der Waffe. „Die Behörde hat dann kein Ermessen mehr“, so Meyer.

Ein Opfer weiter in Lebensgefahr

Von den durch Philipp F. getöteten Opfern aus Hamburg seien nach Stockmanns Angaben vier männlich und drei weiblich gewesen, darunter auch ein durch Notkaiserschnitt totgeborenes Mädchen. Bei den neun Verletzten handele es sich um sieben Frauen und zwei Männer. Sieben von ihnen wohnen in Hamburg, zwei in Schleswig-Holstein. Sieben der Verletzten hätten die deutsche Staatsangehörigkeit. Eine Person habe die ugandische Staatsangehörigkeit, eine weitere die ukrainische. Sechs Opfer befänden sich noch in Krankenhäusern, eine schwebe weiter in Lebensgefahr (siehe auch diesen Eintrag). Sieben der überlebenden Opfer seien durch Schüsse verletzt worden.

Philipp F. soll fachmedizinisch bewertet werden

Wer war Philipp F.? „Wir haben ein differenziertes Bild vom Täter, das psychische Auffälligkeiten aufweist“, sagt Stockmann. Diese sollen nun mithilfe der bisherigen Informationen fachmedizinisch bewertet werden. „Nach aktuellem Sachstand handelt es sich um einen Einzeltäter. Es liegen keinerlei Hinweise auf eine Einbindung in eine Netzwerkstruktur vor.“ Eine rechtsradikale oder -extremistische Einstellung werde „aktuell ausgeschlossen“, so Stockmann.

Ermittler stellen 60 Pistolen-Magazine sicher

Insgesamt wurden bei Philipp F. und in dessen Wohnung 60 Magazine für eine halbautomatische Schusswaffe des Typs Heckler & Koch P30 festgestellt, trägt Stockmann vor. Die Magazine habe Philipp F. nach derzeitigem Ermittlungsstand „teilweise“ über verschiedene Onlinehändler gekauft.

Diese Informationen haben die Ermittler zu Philipp F.

Laut Stockmann hatte Philipp F. bei der Polizei Hamburg zwei Strafanzeigen aufgegeben. Diese seien nun voläufig ausgewertet worden. Die zweite Anzeige sei jedoch aufgrund datenschutzrechtlicher Bestimmungen für die Hamburger Polizei zunächst „nicht mehr recherierbar“ gewesen und von der Staatsanwaltschaft übermittelt worden. Das LKA habe eine bundesweite Informationserhebung zum Täter initiiert. Diese sei noch nicht abgeschlossen.

Zu Philipp F. liegen laut Stockmann bislang Informationen vor zu:

  • Wohnsitzen in mehreren Bundesländern
  • internationalen Reisebewegungen
  • einer „Vielzahl“ von Kontaktpersonen

Aber auch Stockmann erwähnt, dass es keinerlei Informationen zu von Philipp F. vor dem 9. März 2023 begangenen Straftaten gebe.

Philipp F.s Umgang mit Waffen wird weiter analysiert

Auch das Landeskriminalamt Hamburg setzt den Fokus seiner Ermittlungen auf der Frage „Warum?“. Dafür sind nach Angaben von Uwe Stockmann, stellvertretender Leiter des Staatsschutzes im LKA, Kollegen mehrerer Abteilungen unter Führung des polizeilichen Staatsschutzes eingebunden.

Nach der „herausragenden Gewalttat gegen eine Religionseinrichtung und deren Mitglieder“ hätten die Ermittler bis dato eine „hohe zweistellige Anzahl von Zeugenvernehmungen durchgeführt“, so Stockmann. Zudem sei eine „mittlere dreistellige Zahl an Hinweisen“ zur Tat und zum Täter eingegangen. Auch wurden Ermittlungen zu den Wohnsitzen des Täters, seines familiären, persönlichen und beruflichen Umfeldes unternommen.

Analoge und digitale Beweismittel, zu denen auch Philipp F.s Buch gehören, würden von den LKA-Ermittlern ebenso weiter ausgewertet wie der Umgang des Schützen mit dem Thema Waffen. Erörtert werden soll in dem Zuge, wann der 35-Jährige wo welche Waffen bestellt hatte.

Hass auf Zeugen Jehovas als Tatmotiv?

Zum Motiv, ein Blutbad bei den Zeugen Jehovas anzurichten, sagt Keller: „Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Philipp F. aus Hass gegen diese Gemeinschaft gehandelt hat. Ob hierin letztlich das Motiv für die Tat zu suchen ist, kann heute aber noch nicht abschließend gesagt werden.“ Diese Möglichkeit sei aber Anlass für die Staatsanwaltschaft gewesen, die Ermittlungen bereits am Sonntag und damit drei Tage nach dem Tatgeschehen übernommen zu haben. Noch in der Tatnacht sei Kontakt zum Generalbundesanwalt aufgenommen worden. Dieser habe laut Keller jedoch keinen Anlass gesehen, das Verfahren „an sich zu ziehen“.

Staatsanwalt: Philipp F.s Akten waren „leer“

Staatsanwalt Keller hebt noch einmal hervor, dass Philipp F. vor der Tat strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten sei. „Es gibt keine entsprechende Eintragung ins Bundeszentralregister.“ Auch die Verfahrensregister der Staatsanwaltschaft Hamburg sowie das bundesweit geführte zentrale staatsanwaltschaftliche Verfahrensregister (ZSDV) seien im Bezug auf den 35-Jährigen „leer“ gewesen.

Ermittler überprüfen Anzeigen von Philipp F.

Laut Keller gehe es nun darum, ein umfassendes Bild von Philipp F. zu erstellen. „Dazu werden wir alles auswerten, was uns zu und von seiner Person zur Verfügung steht. Hierzu zählen auch die Anzeigen und Eingaben, die Philipp F. bei Behörden in Hamburg und andernorts platziert hat.“ Die Auswertung der Verfahrensakten seien Gegenstand laufender Ermittlungen. Aus den bisherigen Prüfungen gebe es keinerlei Hinweise, „die auch nur ansatzweise auf die Planung einer Tat wie am 9. März ausgeführt hindeuten“. Aus den Anzeigen Philipp F.s ergebe sich bislang kein strafrechtlicher Anfangsverdacht gegen Dritte. Auch das von Philipp F. verfasste Buch mit dem Titel „Die Wahrheit über Gott, Jesus Christus und Satans“ sowie der Internetauftritt des Amokschützen würden laut Keller „natürlich sorgfältig ausgewertet“.

Staatsanwalt: Keine Hinweise auf Mittäter

Die Zusammenarbeit der strafverfolgenden Behörden mit der Polizei bezeichnet Keller als „hervorragend“. Aufgabe der Ermittler sei es nun, das „tragische Gesamtgeschehen umfassend strafrechtlich aufzuklären“. Keller: „Das betrifft sowohl die Rekonstruktion des genauen Tatablaufs als aber auch die Aufklärung des Vortag-Geschehens.“ Dabei werde auch überprüft, ob sich neben Philipp F. weitere Personen strafbar gemacht haben könnten. Bislang gebe es darauf allerdings keine Hinweise. „Ich bitte Sie, von voreiligen Spekulationen Abstand zu nehmen.“

Staatsanwalt: „Grauenhafte Bilder“ für die Ermittler

Arnold Keller von der Generalstaatsanwaltschaft sagt, dass den Familien der Opfer nach der Obduktion eine baldige Bestattung ermöglicht ihrer Angehörigen werden soll.

Die Einsatzkräfte und Ermittler wiederum müssten nun die „grauenhaften Bilder“ der Tatnacht verarbeiten. Keller: „Das ist nicht das tägliche Brot, was hartgesottene Mordermittler jeden Tag zu sehen bekommen.“

Grote: Verschärfung des Waffenrechts soll kommen

Trotz des Lobs an die Einsatzkräfte gebe es laut Grote „Dinge, die wir besser machen können“. Auch, wenn sich eine solche Tat wohl nie vollständig verhindern ließe, gelte: „Wir müssen alles tun, um das Risiko so gering wie möglich zu halten.“

Dazu gehöre etwa eine Verschärfung des Waffenrechts. Die generelle Vorlage eines amtsarztlichen Zeugnisses zur persönlichen Eignung als Waffenbesitzer bezeichnete Grote in diesem Zuge als „ganz entscheidende und relevante Änderung“. Hamburgs Innensenator hofft, dass auf Bundesebene Einigung darüber erzielt werde, dass bisherige Altersgrenze von 25 Jahren für einen solchen Nachweis fallen soll.

Zum Täter Philipp F. sagt Grote, es sei wahrscheinlich, dass eine psychische Erkrankung schon im Dezember vorhanden war.

Grote: 20 Menschen das Leben gerettet

Andy Grote ergreift als erster das Wort: „Man kann festhalten, dass es eine enorme Anerkennung dafür gibt, was in dieser dramatischen Einsatzlage geleistet worden ist.“ Die Beamten der Spezialeinheit USE seien nach fünf Minuten vor Ort und innerhalb von sieben Minuten im Gebäude gewesen und hätten so rund 20 Menschen das Leben gerettet. „Das gelingt wahrscheinlich fast nie.“ Einige Einsatzkräfte hätten noch nicht einmal Helme aufgesetzt. Grote: „Sie sind so schnell, wie es irgendwie ging, hinein.“

Eine verletzte Person schwebe Stand jetzt weiter in Lebensgefahr. Grote äußerte aber Hoffnung, dass sich ihr Zustand verbessere.

Übersah die Polizei Philipp F.s verdächtiges Buch?

Mit Spannung erwartet wird auch, ob sich Meyer und Grote zum Umgang mit dem verdächtigen Buch des späteren Amokschützen äußern. Wie „Zeit online“ berichtet, sollen Ermittler Philipp F.s Werk mit dem Titel „Die Wahrheit über Gott, Jesus Christus und Satan“ nicht gelesen haben.

Das Buch war Ende Dezember erschienen und enthält zahlreiche antisemitische Aussagen. Der Autor erklärt darin außerdem Massenmord im Auftrag Gottes für legitim und Adolf Hitler zu einem Werkzeug Christi. Auch das Abendblatt hat sich mit dem knapp 300-seitigen Werk befasst.

Amoklauf von Philipp F.: Debatte um Waffenrecht

In der Pressekonferenz wird vermutlich auch ein Stand zur politischen Diskussion über eine mögliche Verschärfung des Waffenrechts kommuniziert.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hatte kurz nach der Amok-Tat von Hamburg angekündigt, den Entwurf zur Änderung des Waffengesetzes noch einmal prüfen zu wollen. Intern haben sich die Sozialdemokraten dazu bereits beraten.

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Philipp F. hatte eine Pistole des Typs Heckler & Koch P30 L genutzt, die er legal erworben hatte. Nachdem er in einem anonymen Schreiben als psychisch krank bezeichnet worden war, wurde er Anfang Februar von Beamten in seiner Wohnung aufgesucht und kontrolliert.

Dabei wurde festgestellt, dass die waffenrechtlichen Vorschriften eingehalten wurden. Auch hatte man keine psychischen augenscheinlichen Auffälligkeiten bei dem nicht vorbestraften Mann feststellen können.

Amoklauf in Hamburg: Schöpfte Polizei alle Möglichkeiten gegen Philipp F. aus?

Nach Abendblatt-Informationen ist die Hamburger Polizei intern bereits zu dem Schluss gekommen, dass alle Möglichkeiten ausgeschöpft worden waren und keine rechtliche Handhabe bestand, Philipp F. die Waffe zu entziehen.

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Philipp F. hatte im Dezember vergangenen Jahres eine Waffenbesitzkarte bekommen. Voraussetzung dafür war, dass er als zuverlässig und geeignet galt. Philipp F. war Mitglied in einem Schießclub in der Hamburger Innenstadt.