Den Haag. Der Chefankläger beim Internationalen Strafgerichtshof beantragt Haftbefehl gegen Israels Premier. Warum, was treibt Karim Khan?
Es ist eine brisante Wende im Gaza-Krieg: Der Chefankläger beim Internationalen Strafgerichtshof (IGH) in Den Haag hat einen Haftbefehl gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu beantragt. Der Vorwurf lautet auf Kriegsverbrechen im Gazastreifen. Auf der Gegenseite soll der Anführer der Terrororganisation Hamas im Gazastreifen, Jihia al-Sinwar, wegen des Terrorangriffs vom 7. Oktober verhaftet werden. Wenn die Richter des Strafgerichhofs dem Antrag folgen, kann Netanjahu in viele Staaten nicht mehr reisen, ohne eine Festnahme zu riskieren – das gilt auch für Deutschland. Verantwortlich für den Haftbefehl-Antrag: Chefankläger Karim Khan, Top-Jurist aus Großbritannien. Wer ist der Mann, der Netanjahu jagt – und nach dem der russische Präsident Wladimir Putin seit einem Jahr fahnden lässt?
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Diesmal hat Khan schon vor dem Beschluss für größte Aufregung gesorgt. Israels Regierung, die den nahenden Haftbefehl selbst publik gemacht hatte, protestierte massiv: „Zum ersten Mal ist es so, dass einem demokratischen Land, das nach den Regeln des Krieges um sein Überleben kämpft, selbst Kriegsverbrechen vorgeworfen werden“, beklagte Netanjahu bereits im Vorfeld. Auch aus den USA war Kritik gekommen. Der Chefankläger ließ umgekehrt schon erklären, dass sich der Gerichtshof gegen jegliche Einflussnahme verwahre. Bemühungen, die Mitarbeiter des IGH zu behindern und einzuschüchtern, müssten sofort beendet werden. Es wird also mit harten Bandagen gerungen – aber das ist Khan gewöhnt.
Haftbefehl gegen Netanjahu: Vorwurf des „Aushungerns von Zivilisten als Methode der Kriegsführung“
Weitere Haftbefehle will Khan laut Mitteilung des Strafgerichtshofs gegen Israels Verteidigungsminister Joav Galant sowie gegen Sinwars Stellvertreter Mohammed Deif und gegen den Hamas-Auslandschef Ismail Hanija erreichen. Den Hamas-Führern wirft der Ankläger der Mitteilung zufolge unter anderem „Ausrottung“ sowie Mord, Geiselnahme, Vergewaltigungen und Folter als Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor.
Den Haftbefehl gegen den israelischen Premier Netanjahu und seinen Verteidigungsminister begründet er unter anderem mit dem Vorwurf des „Aushungerns von Zivilisten als Methode der Kriegsführung“, vorsätzlichem Verursachen großer Leiden, Angriffen auf die Zivilbevölkerung, vorsätzlicher Tötung oder Mord und mit der Vernichtung im Zusammenhang mit Hungertoten als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Khan sagte: „Wir gehen davon aus, dass die angeklagten Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Rahmen eines weitreichenden und systematischen Angriffs auf die palästinensische Zivilbevölkerung gemäß der Staatspolitik begangen wurden.“
Der Chefankläger war Ende 2023 selbst nach Israel und die Palästinensergebiete gereist. „Ich habe israelische Opfer getroffen, deren Angehörige am 7. Oktober getötet wurden oder die Geiseln sind. Und ich habe mit Palästinensern gesprochen, die unter den schrecklichsten Bedingungen leiden“, berichtete Khan danach.
Khan: Hamas-Angriffe eines der schlimmsten internationalen Verbrechen
Er nannte die Hamas-Angriffe eines der schlimmsten internationalen Verbrechen, forderte die sofortige Freilassung aller Geiseln und rief beide Seiten zur Achtung des Völkerrechts auf. „Wenn sie es nicht tun, dürfen sie sich nicht wundern, dass wir gezwungen sind zu handeln“, sagt der Staatsanwalt. Aber: Auch Israel sei bei den Angriffen im Gazastreifen an internationales Recht gebunden, erklärt Khan. Das gelte vor allem für den Schutz der am stärksten Gefährdeten – Kinder, Frauen, Kranke oder Zivilisten. Wenn der Gazastreifen bombardiert werde, „müssen wir einen Weg finden, dies deutlich zu machen“. Das erfordere Durchhaltevermögen und Entschlossenheit.
Genau das reklamierte allerdings auch Netanjahu für sich. Er versicherte schon vorab, die Haftbefehle würden nichts an Israels Militäreinsatz im Gazastreifen ändern. „Unsere Entschlossenheit, alle Kriegsziele zu erreichen, wird das in keiner Weise schmälern“, versicherte der Premier. Die Sprecherin des Weißen Hauses, Karine Jean-Pierre, stellte sich in diesem Fall hinter den Premier: „Wir unterstützen die IGH-Untersuchung nicht. Wir glauben nicht, dass das Gericht zuständig ist.“ Eine Gruppe republikanischer Senatoren wurde deutlicher und drohte Khan, seinen Mitarbeitern und ihren Familien offen mit Sanktionen: „Wenn Sie Israel ins Visier nehmen, werden wir Sie ins Visier nehmen“, warnten die Senatoren den Staatsanwalt.
Khan gilt als hervorragender Anwalt
Khan wurde 2021 zum Chefankläger des Strafgerichtshofs gewählt. Er genießt einen Ruf als hervorragender Anwalt, charismatisch, durchsetzungsfähig und mit großer Erfahrung im internationalen Strafrecht. Der 54-jährige Jurist ist im schottischen Edinburgh geboren, hat einen pakistanisch-muslimischen Migrationshintergrund: Sein Vater, ein Hautarzt, ist in Pakistan geboren, seine Mutter, eine Krankenschwester, stammt aus Großbritannien. Einer seiner beiden Brüder war zeitweise Parlamentsabgeordneter der konservativen Tories. Der Jurist begann schon bald nach dem Studium in London als Ankläger bei den UN-Tribunalen, die sich mit den Kriegsverbrechen in Ruanda und Ex-Jugoslawien beschäftigten.
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Später vertrat er in großen Verfahren vor internationalen Strafgerichten mal Opfer, mal Angeklagte wie Kenias Präsident Uhuru Kenyatta oder den Sohn des libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi. Vor seiner Wahl zum Chefankläger führte Khan zuletzt das Untersuchungsteam, das für den IGH wegen Kriegsverbrechen und Völkermord im Irak gegen die Terrormiliz Islamischer Staat ermittelte. Der IGH soll Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord verfolgen, 124 Staaten sind dem Gericht beigetreten, auch Deutschland.
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Khan spürt nicht zum ersten Mal scharfen Gegenwind: Er übernahm den Top-Job vor drei Jahren, als der Strafgerichtshof schwer unter politischem Druck stand: Wegen der seinerzeit schon geplanten Ermittlungsverfahren zu Kriegsverbrechen in den Palästinensergebieten und ebenso in Afghanistan hatte Donald Trump als US-Präsident Sanktionen gegen Khans Vorgängerin verhängt. Die USA erkennen ebenso wie Russland, China und Israel das Gericht nicht an. Khan betrieb die Ermittlungen zu Afghanistan weiter, entschied aber, dass aus „Ressourcengründen“ Vorwürfen gegen die US-Truppen nicht weiter nachgegangen werde. Das trug ihm Kritik von Menschenrechtsorganisationen ein.
„Das Völkerrecht und die Gesetze für bewaffnete Konflikte gelten für alle“
Schon kurz nach Beginn des Ukraine-Kriegs begann der IGH unter dem Eindruck des von russischen Soldaten verübten Massakers in Butscha Ermittlungen in der Ukraine wegen Kriegsverbrechen. Vor einem Jahr erließ Khan dann einen Haftbefehl gegen Wladimir Putin und dessen Präsidialbeauftragte für Kinderrechte, Marija Lwowa-Belowa: Sie seien persönlich verantwortlich für die rechtswidrige Deportation von Kindern und die Umsiedlungen aus den besetzten Gebieten der Ukraine. Putin reagierte umgehend: Er ließ Khan wegen des Verstoßes gegen russische Strafgesetze auf die Fahndungsliste setzen. Khan habe „wissentlich eine unschuldige Person angeklagt“, hieß es in Moskau.
In einem Interview versicherte Khan vorab, es bereite ihm keine Freude, einen Haftbefehl gegen den Regierungschef eines ständigen Mitglieds des UN-Sicherheitsrates zu erlassen – und eines Landes wie Russland „mit einer solchen Kunst-, Musik- und Literaturgeschichte“. Aber es seien die Staaten, die entscheiden müssten, ob sie das Völkerrecht missachten oder respektieren wollten. Genauso äußerte sich Khan nun auch wegen seines Haftbefehl-Antrags gegen Netanjahu und die Hamas-Führer: „Das Völkerrecht und die Gesetze für bewaffnete Konflikte gelten für alle. Kein Fußsoldat, kein Kommandant, kein ziviler Anführer – niemand – kann ungestraft handeln.“ Der Strafgerichtshof werde greifbar beweisen, „dass das Leben aller Menschen den gleichen Wert hat.“