Kiew. Dokumente zeigen, dass Russland sich vor ukrainischen Minderjährigen fürchtet. Putin umtreibt dabei offenbar eine besondere Sorge.

Fast 20.000 ukrainische Kinder sollen im Zuge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine illegal nach Russland verschleppt worden sein. Wegen der Deportationen gibt es seit einem Jahr einen Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Russlands Machthaber Wladimir Putin sowie gegen die russische Kommissarin für Kinderrechte, Marija Lwowa-Belowa.

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Nun liegen dem oppositionellen Exil-Medium „Meduza“ mit Sitz in der lettischen Hauptstadt Riga Dokumente des russischen Bildungsministeriums vor, die zeigen sollen: Russland hat vor der ukrainischen Identität der Kinder Angst und betrachtet diese sogar als „potenzielle Terroristen“.

Deswegen würden im Moskauer Bildungsministerium Methoden für die „Umerziehung“ der aus der Ukraine verschleppten Kinder und ein System der digitalen Überwachung geschaffen. Den Papieren zufolge soll die Umerziehung der minderjährigen Ukrainer gleich nach ihrer Ankunft in Russland beginnen. Es werde geraten, den Kindern direkt zu sagen, dass ihre Eltern tot seien und sie nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren werden, berichtet Meduza.

Aus dem Kinderheim in Luhansk in eine sibirische Pflegefamilie
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    Bis zum Schulabschluss der Kinder solle dann an ihrer ideologischen Orientierung gearbeitet werden. Das vorgeschriebene Ziel sei, dass die Kinder bis dahin eine vollständig russische Identität entwickeln. Die Schüler müssten laut Dokumenten „ein Gefühl des Stolzes auf ihr Land, Patriotismus und Zugehörigkeit zum Land“ verspüren. Unter dem „Land“ ist natürlich Russland und nicht die Ukraine gemeint, obwohl dies in den Papieren so nicht direkt erwähnt wird.

    Der russische Angriffskrieg soll demnach auf folgende Art und Weise beschrieben werden: „Verschärfung der geopolitischen Lage, die Familien zur Umsiedlung gezwungen hat“. Letztlich solle die „Umerziehung“ der ukrainischen Kinder einzig und allein „auf der Grundlage spiritueller und moralischer Werte, historischer und nationalkultureller Traditionen der Russischen Föderation“ vonstattengehen.

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    Die Quellen von „Meduza“ im russischen Bildungsministerium betonen: Das Ministerium sei mit der Zwangsintegration der ukrainischen Kinder nicht alleine deswegen so stark beschäftigt, weil dies von oben angeordnet und vom Kreml offensichtlich so gewollt sei. Tatsächlich herrsche in der russischen Führung regelrecht Angst vor diesen Kindern. „In unseren Gesprächen wird angedeutet, dass ukrainische Kinder potenzielle Terroristen sind“, wird eine der Quellen zitiert. „Wir sind ja keine Idioten. Wir verstehen, dass Kinder, die von der Ukraine aus in eine feindliche Umgebung gebracht werden, irgendwann möglicherweise anfangen werden, Widerstand zu leisten – vielleicht mit der Hilfe der ukrainischen Verwandten.“

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    Offenbar hat das Moskauer Bildungsministerium noch Ende 2022 damit angefangen, sich auf mögliche Terroranschläge und Sabotagen gegen russische Einrichtungen vorzubereiten. In den von Meduza analysierten Dokumenten werden als mögliche Gefahren bewaffnete Angriffe, Geiselnahmen, Explosionen, Brandstiftungen und Drohnenangriffe genannt.

    Außerdem wurde gemäß eines Dekrets von Wladimir Putin kurz nach der Beginn des Angriffskriegs im Frühjahr 2022 das dem Bildungsministerium unterstehende Föderale Jugendzentrum gegründet. Es soll einen wesentlichen Teil der ideologischen Arbeit mit den Jugendlichen außerhalb der Schulen übernehmen. Dieses Zentrum, das auf eine Idee der Kinderrechtskommissarin Lwowa-Belowa zurückgehen soll, veranstaltet vor allem patriotische Seminare sowie Militärsportspiele – und zwar insbesondere auf besetztem ukrainischen Gebiet. Nach Angaben der Gesprächspartner von „Meduza“ wurde das Zentrum eigens für ukrainische Kinder geschaffen, um ihre „ukrainische Vergangenheit auszulöschen“.

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    Darüber hinaus weisen die Berichte des Bildungsministeriums darauf hin, dass in Russland trotz der Behauptungen Lwowa-Belowas doch ein massives Programm für Adoption der ukrainischen Kinder existiert. In den ersten drei Quartalen des Jahres 2023 seien insgesamt mindestens 77 Kinder zur Adoption freigegeben worden – obwohl Lwowa-Belowa früher behauptet hatte, dass dies unmöglich sei. Nach ihren Angaben können die Kinder lediglich in Gewahrsam genommen werden, damit später bei Gelegenheit die Möglichkeit besteht, sie an ihre Eltern zurückzugeben.

    Außerdem soll Russland versuchen, die Aktivitäten der ukrainischen Kinder im Internet mithilfe des so genannten automatisierten Informationssystems „Profilaktika“ (Prävention) zu verfolgen. Dieses vom Bildungsministerium in Auftrag gegebene Projekt überwacht Profile von Teenagern in den sozialen Netzwerken. Mithilfe der Künstlichen Intelligenz erstellt „Profilaktika“ ein Risikoprofil für jedes Kind.

    Wenn es Risiken etwa für Selbstmorde, Terrorismus oder Extremismus sieht, werden diese Informationen an die Behörden weitergegeben. Als Beispiel für angeblichen Extremismus betrachtet das System etwa die demokratische Maidan-Revolution 2013/2014 in der Ukraine, die in der verwendeten Datenbank folgendermaßen beschrieben wird: „Neonazi-Organisationen wurden genutzt, um die sogenannte Opposition zu bilden und einen Staatsstreich durchzuführen.“ Offenbar verfügt das Bildungsministerium damit über Mittel, auch Teenager zu identifizieren, die unter einem Pseudonym und mit fremden Fotos im Netz unterwegs sind. Das ist nicht nur von Bedeutung für besetzte ukrainische Gebiete, sondern auch für insgesamt 44 russische Regionen, in denen „Profilaktika“ bereits eingesetzt wird.