Berlin. Militärexperte Carlo Masala ordnet die Lage im Krieg zwischen der Ukraine und Russland ein und sagt, wie er auf Wladimir Putin blickt.

Herr Masala, wie bewerten Sie die aktuelle Lage an der ukrainischen Front?

Carlo Masala: Sehr kritisch aus Perspektive der Ukraine. Wenn Russland in der Tat in den nächsten Wochen eine neue Offensive versuchen sollte, dann ist es nicht auszuschließen, dass es auch zu Durchbrüchen an einigen Teilen der Front kommt. Denn das grundlegende Problem besteht weiter: Es fehlt den Ukrainern an Munition und Personal.

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Carlo Masala: Der Militärexperte sieht die Lage an der ukrainischen Front kritisch.
Carlo Masala: Der Militärexperte sieht die Lage an der ukrainischen Front kritisch. © picture alliance / Geisler-Fotopress | Thomas Bartilla/Geisler-Fotopres

Mehrere Experten erwarten eine solche Offensive …

Ja, sie ist zu erwarten – aber wir wissen nicht, ob sie kommt. Man kann das nicht mit Gewissheit sagen. Momentan sehen wir keine Vorbereitungen für eine größere Offensive. Aber das heißt nicht, dass sie nicht im Geheimen schon laufen und sich demnächst auch auf dem Schlachtfeld abzeichnen werden.

Carlo Masala

Er ist einer der bekanntesten Militärexperten in Deutschland. Masala (Jahrgang 1968) lehrt Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München. Er beantwortet unserer Redaktion jede Woche die wichtigsten Fragen rund um den Konflikt in der Ukraine.

Welche Orte der Ukraine könnten besonders betroffen sein?

Man kann nicht sagen, wo die Hauptstoßrichtung liegen würde. Es kann sein, dass sie bei Kupjansk liegt. Denn wenn Kupjansk erobert würde, wäre der Weg nach Charkiw frei.

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Auf die Stadt werden zunehmend wieder Angriffe verzeichnet.

Das ist nur logisch, denn Russland geht es im Moment darum, den kompletten Donbass zu erobern. Insofern sind verstärkte Angriffe auf Charkiw folgerichtig.

Wenn wir mal auf das Wetter schauen: Wann wäre für Russland ein guter Zeitpunkt für eine neue Offensive?

Im Prinzip von jetzt bis Ende Mai. Wenn es danach zu heiß wird, bekommen die Streitkräfte Probleme, weil die Fahrzeuge der Soldaten nicht klimatisiert sind.

Die Nato feiert ihren 75 Geburtstag. In was für einem Zustand ist das Bündnis aktuell?

Es ist in einem wesentlich besseren Zustand als in den letzten zehn Jahren, weil es wieder auf das ausgerichtet ist, wofür es gegründet wurde – auf die Abwehr einer russischen Bedrohung. In den vergangenen zehn Jahren dominierte etwas, was ich mal Risikodiffusion genannt habe: Die Mittel- und Osteuropäer gucken nach Russland, die Nordeuropäer gucken in die Arktis, die Südeuropäer gucken auf den Mittelmeerraum. Diese Bereiche sind immer noch virulent. Aber im Unterschied dazu herrscht jetzt Einigkeit darüber, dass die Hauptbedrohung für die Sicherheit des Bündnisses aus Russland kommt.

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    Ungeachtet dessen, was möglicherweise im November in den USA passiert.

    Ja, in der Tat. Wir reden jetzt über den Status quo. Es steht auf einem ganz anderen Blatt, dass die Nato vor zwei riesigen Herausforderungen steht – einmal der möglichen Wahl von Donald Trump in den USA, und auf der anderen Seite ein möglicher russischer Sieg in der Ukraine.

    Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat 100 Milliarden Euro als Hilfsfonds für die Ukraine vorgeschlagen. Reicht das aus?

    Nein, das reicht natürlich nicht aus. Das ist ein Teil. Parallel dazu müssen weitere nationale Leistungen aufgebracht werden. Dieser Hilfsfonds ist der Versuch, eine Nato-Unterstützung für die Ukraine zu garantieren, auch wenn Trump gewählt werden sollte. Das Risiko besteht darin, dass wir innerhalb der Nato Staaten haben, die nicht nur sehr zögerlich an die Hilfen für die Ukraine herangehen, sondern sie eigentlich gern einstellen wollen. Konkret: Ungarn und Slowenien. Je nachdem wie das organisiert wird, besteht das Risiko, dass diese beiden Staaten ein Veto-Recht haben bei der Vergabe dieser Mittel.

    Ist die Debatte über das vermeintlich mögliche Einfrieren des Konfliktes inzwischen beendet?

    Ja. Auch der Bundeskanzler hat sich in einer seiner letzten Reden dagegen gestellt, auch wenn er es nicht so direkt gesagt hat.

    Er hat noch einmal betont, Deutschland werde die Ukraine so lange wie nötig unterstützen – auch im Interesse der deutschen Sicherheit.

    Genau, das war bemerkenswert. Damit hat er erstmals das Sicherheitsargument verwendet.

    Wie blicken Sie aktuell auf Wladimir Putin?

    Innenpolitisch steht er ziemlich doof da. Aber was seine Machtposition anbelangt, ist er seit der niedergeschlagenen Meuterei durch Prigoschin im Sommer 2023 gestärkt. Er hat die eigenen Reihen von Kritikern gesäubert. Aus seiner Perspektive läuft der Krieg momentan für Russland. Dass er darüber die innere Sicherheit vernachlässigt hat, mit Blick auf die Gefahren durch den islamistischen Terrorismus, das versucht er einzuhegen, indem er den Anschlag mithilfe seines Propagandaapparates der Ukraine in die Schuhe schiebt. Das scheint auch zu gelingen – Verteidigungsminister Schoigu soll seinen französischen Kollegen angerufen und noch einmal gesagt haben, die Ukraine stecke hinter dem Anschlag, mit der Hilfe westlicher Geheimdienste. Dieses innerrussische Narrativ ist sehr stark und scheint Erfolg zu haben.