Nach einem heftigen Bombardement des Hauptquartiers von Muammar Gaddafi sind Rebellen am Dienstag auf das Gelände vorgedrungen. Der UN-Gesandte der libyschen Oppositionskräfte, Ibrahim Dabbaschi, sagte in New York, der schwer befestigte Bab-al-Asisija-Komplex im Zentrum der libyschen Hauptstadt sei „voll und ganz in der Hand der Revolutionäre“. Dort feuerten die Rebellen Freudenschüsse in die Luft und räumten Waffenlager. Ihre Anführer rechneten aber noch mit der Gegenwehr loyaler Gaddafi-Soldaten in dem weitläufigen Komplex
Tripolis. Das US-Verteidigungsministerium erklärte, die verbliebenen Truppen des früheren Machthabers blieben gefährlich, auch wenn dessen Befehlsmöglichkeiten stark eingeschränkt seien. Die USA gingen zudem davon aus, dass Gaddafi nach wie vor in Libyen sei.
Die Bewohner der Hauptstadt, die noch am Sonntag auf den Straßen das Ende der mehr als 40-jährigen Gaddafi-Herrschaft gefeiert hatten, zogen sich in Häuser zurück und suchten dort Schutz vor den Gefechten. Immer wieder nahmen Scharfschützen und Panzer der Gaddafi-Truppen die vorrückenden Rebellen-Einheiten unter Beschuss.
In der Nacht zuvor hatten die Rebellen einen empfindlichen Rückschlag erlitten, als Gaddafis gefangen geglaubter Sohn Saif al-Islam überraschend vor dem Hauptstadt-Hotel Rixos vorfuhr, in dem Auslandskorrespondenten Quartier bezogen haben. Umjubelt von Anhängern verbreitete er lächelnd Durchhalteparolen, schüttelte Hände und machte mit seinen Fingern das Victory-Zeichen. Die Aufständischen hatten zuvor die Festnahme des als Nachfolger seines Vaters aufgebauten Saif als wichtigen Erfolg vermeldet. Sein Auftritt ließ Zweifel an der Verlässlichkeit der Angaben der Rebellen aufkommen.
Saif sagte, die Regierung kontrolliere Tripolis nach wie vor. Seine Anhänger forderte er auf, zu den Waffen zu greifen. Selbstbewusst erklärte er, es interessiere ihn nicht, dass der Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl gegen ihn und seinen Vater wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit erlassen habe. Die Rebellen, die er als Ratten beschimpfte, würden besiegt werden. Auf die Frage, ob sein Vater wohlauf sei, antwortete er: „Natürlich.“
„Wir versuchen herauszufinden, wie er entkommen konnte“, sagte ein verdutzter Aufständischer. „Viele der Männer in Uniform sind Freiwillige, und ein paar von ihnen machen Fehler.“ Ob Saif sich überhaupt jemals in der Hand der Rebellen befunden hat, ist unklar. Viele Angaben über die Kämpfe in Tripolis lassen sich unabhängig nur schwierig überprüfen.
Auch in anderen Stadtteilen hatten die Rebellen offenbar längst noch nicht die Oberhand gewonnen. „Bis gestern dachten wir, dass das Hafen-Gebiet von den Oppositionskräften kontrolliert werde, aber in der Nacht haben sie uns aufgefordert, abzuwarten und nicht anzulegen“, sagte etwa ein Sprecher der Internationalen Organisation für Migration (IOM), die ein Rettungsschiff zur Evakuierung von gestrandeten Gastarbeitern nach Tripolis entsandt hat. Fast 6000 Menschen aus Ägypten, Bangladesch und den Philippinen hätten um Hilfe gebeten. Die Rebellen hätten der Hilfsorganisation jedoch gesagt, die Bedingungen für eine Rettung seien im Moment „nicht optimal“.
Das Machtvakuum in der Hauptstadt gab Befürchtungen neue Nahrung, der dünn besiedelte Wüstenstaat könne so instabil wie der Irak nach dem Fall Saddam Husseins werden. Gaddafi-Truppen und Islamisten könnten die Spannungen zwischen Stämmen und politischen Strömungen im Land ausnutzen. Die Rebellen halten nach eigenen Angaben Einheiten bereit, um in der Hauptstadt für Ordnung zu sorgen. Ähnlich waren sie in den vergangenen Monaten bei ihrem Vormarsch durch das Land vorgegangen. Unklar ist bisher allerdings, wie sie mit den traditionellen Differenzen zwischen dem Osten und dem Westen des Landes umgehen wollen, wenn sie ihre Kontrolle über den ganzen Staat festigen.
Unterdessen wurden auch aus anderen Landesteilen Gefechte gemeldet. Der Sender Al-Dschasira berichtete, in der Nähe der strategisch wichtigen Ölstadt Brega habe es Zusammenstöße gegeben. Al-Arabija berichtete von schweren Kämpfen in dem symbolträchtigen Ort Sirte am Mittelmeer, in dessen Nähe Gaddafi geboren wurde. Die Rebellen hätten einen Militärkonvoi angegriffen und Dutzende Soldaten des Machthabers getötet.
Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy beriet mit seinem US-Kollegen Barack Obama telefonisch über die Lage in Libyen. Sie vereinbarten nach Angaben eines Sprechers Sarkozys, möglichst bald eine Konferenz in Paris einzuberufen, auf der über den Wiederaufbau des nordafrikanischen Landes beraten werden solle.
mit Material von reuters