Chaotische Zustände und Gewalt in Tripolis. Al-Qaida-Terroristen unterstützen Gaddafi-Gegner, während der Benzinpreis weiter steigt.
Tripolis/Köln/Washington. Sie flogen so bequem wie Bundeskanzlerin Angela Merkel. Doch diese Reise wird ihnen in schrecklicher Erinnerung bleiben, Denn es war eine Flucht aus Libyen, aus dem untergehenden Reich des Revolutionsführers Muammar al-Gaddafi, die Dutzende Deutsche durchzustehen hatten. Die deutsche Luftwaffe hat weitere 74 Menschen ausgeflogen. Der Kanzler-Airbus „Konrad Adenauer“ mit 47 deutschen und weiteren Passagieren aus 15 Nationen landete am Mittwochabend auf dem Flughafen Köln/Bonn. Auch der ist nach Konrad Adenauer benannt. Die Heimkehrer berichteten von chaotischen Zuständen am Flughafen in der libyschen Hauptstadt Tripolis. Tausende Menschen, darunter auch viele Libyer, wollten ausreisen und belagerten das Flughafengebäude, sagte der Passagier Roland Gehrmann nach der Landung in Köln. „Sie kommen nirgendwo da rein, sie müssen sich durchprügeln“, sagte er.
Der Weg vom Flughafenvorplatz zur Maschine in Tripolis habe bis zu sechseinhalb Stunden gedauert, sagte der Kommandant des Flugzeugs, Oberstleutnant Johannes Stamm. Gefahr für die Maschine habe aber zu keiner Zeit bestanden. Gehrmann schilderte chaotische Zustände in ganz Libyen: Bekannte hätten sich mit sechs Autos aus Bengasi auf den Weg in die Hauptstadt gemacht und seien nach Überfällen nur mit drei Wagen in Tripolis angekommen. Mit Schlagstöcken habe die libysche Polizei am Flughafen den Ausländern den Weg zum Terminal bahnen müssen. Viele der Passagiere seien „erheblich erschöpft“ gewesen, sagte Kommandant Stamm.
Angesichts der erwarteten Flucht Hunderttausender Menschen aus Libyen nach Europa fordert Amnesty International die Aufnahme afrikanischer Flüchtlinge auch in Deutschland. Zugleich appellierte Amnesty-Deutschland-Chefin Monika Lüke in der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ an die EU, nach dem Waffenembargo gegen Libyen auch den Export von Rüstungsgütern in andere Krisenländer der Region sofort zu stoppen. „Das Waffenembargo gegen Libyen ist ein erster richtiger Schritt. Die Regelungen der EU für Rüstungsexporte in andere Krisenländer wie Bahrain, Jemen, Jordanien, Marokko oder Algerien sind aber nach wie vor nicht strikt genug“, sagte Lüke. Die EU-Länder dürften jetzt nicht die Fehler der Vergangenheit wiederholen. So habe allein Deutschland im Jahr 2009 Rüstungsgüter im Wert von 53,1 Millionen Euro nach Libyen geliefert, obwohl die Menschenrechtssituation dort schon 2009 katastrophal gewesen sei.
Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) sieht keinen Flüchtlingsstrom infolge der Unruhen in Nordafrika auf Deutschland zukommen. „Wir können nicht alle armen Afrikaner nach Europa lassen, nur weil sie im Moment in Libyen vielleicht keine Arbeit finden“, sagte de Maizière im ZDF. Aufbau- und nicht Flüchtlingshilfe sei gefragt. Besonders südeuropäische Länder wie etwa Italien fürchten eine neue Flüchtlingswelle, nachdem das politisch instabile Libyen nicht mehr wie früher die Grenzen nach Norden überwacht. De Maizière sagte hingegen, dass der demokratische Wandel viele Afrikaner ermutige, daheimzubleiben.
Derweil will der von Aufständischen umzingelte Staatschef Gaddafi nicht aufgeben. Auch seine Söhne kämpfen nach wie vor an der Propagandafront. Gaddafis Sohn al-Saadi erklärte in einem Telefoninterview mit der „Financial Times“, 85 Prozent des Landes seien „sehr ruhig und sehr sicher“. Sein Bruder Saif al-Islam arbeite derzeit an einer Verfassung für Libyen. Bisher hat das nordafrikanische Land keine Verfassung. Sein Vater werde künftig als Berater einer neuen Regierung fungieren, sagte al-Saadi, der sich bisher international vor allem als mittelmäßiger Fußballer hervorgetan hatte. „Mein Vater wird bleiben als großer Vater, der Ratschläge gibt.“
Gaddafi selbst hat sich am Donnerstag wieder im Fernsehen gemeldet, diesmal per Telefon. In seiner Ansprache gab er Al-Kaida-Führer Osama bin Laden die Schuld für die Massenproteste gegen sein Regime. Anhänger des Terrornetzwerks hätten jungen Libyern halluzinogene Tabletten in den Kaffee getan und sie auf diese Weise dazu gebracht, zu rebellieren.
Die Demonstranten seien „loyal gegenüber Bin Laden... Das ist Al-Kaida, gegen die die gesamte Welt kämpft“. Extremisten des Terrornetzwerks würden Jugendliche ausnutzen. Zugleich sprach der Machthaber den Opfern der Unruhen in der Stadt Sawija sein Beileid aus. Augenzeugen zufolge wurden zehn Menschen getötet, als Soldaten in Sawija eine Moschee angriffen.
Gaddafis Sohn Saif al-Islam widersprach in der Nacht zum Donnerstag im libyschen Rundfunk Berichten über Angriffe der libyschen Luftwaffe auf Zivilisten. Seit Beginn der Unruhen seien einige wenige Menschen gestorben. „Aber Leute, von Hunderten oder Tausenden zu sprechen und von Luftangriffen, das ist ein Witz selbst vom militärischen Standpunkt aus“, sagte Saif al-Islam.
Westliche Diplomaten sind entsetzt über die verbalen Entgleisungen von Saif al-Islam in den vergangenen Tagen. Der Gaddafi-Sohn war von ihnen bislang eher als moderate Kraft innerhalb des Regimes angesehen worden. Inzwischen haben jedoch auch sie den Eindruck gewonnen, dass er ähnlich gewissenlos ist wie sein Vater. Auch Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) sagte am Mittwoch nach seiner Ankunft in Kairo, die jüngsten Äußerungen des Gaddafi-Sohnes seien erschreckend gewesen.
Die Gaddafi-Tochter Aischa dementierte im staatlichen Fernsehen Medienberichte, wonach sie versucht habe, sich mit einem Privatflugzeug nach Malta abzusetzen. Dort soll sie angeblich keine Landeerlaubnis erhalten haben. Die Rechtsanwältin, die während der Aufzeichnung des libyschen Fernsehens vor dem gleichen Gebäude in Tripolis stand, vor dem schon ihr Vater eine wütende Rede gehalten hatte, sagte: „Ich sage allen Libyern und Libyerinnen, die mich geliebt haben und die ich geliebt habe und die mich gut kennen, dass ich standhaft bleibe.“
Der nordafrikanische Ableger des Terrornetzwerks al-Qaida (Aqmi) hat den Demonstranten in Libyen seine volle Unterstützung bei ihrem Aufstand gegen Revolutionsführer Gaddafi zugesichert. „Wir werden unser Möglichstes tun, um euch zu helfen“, heißt es in einer Mitteilung al-Qaida im islamischen Maghreb, wie das auf die Überwachung islamistischer Internetseiten spezialisierte US-Unternehmen Site mitteilte. Es sei an der Zeit, dass den „Betrüger, Sünder und hartherzigen Bastard“ Gaddafi dasselbe Ende ereile wie die gestürzten Staatschefs von Tunesien und Ägypten, Zine el-Abidine Ben Ali und Husni Mubarak.
In seiner ersten Stellungnahme zur Eskalation der Gewalt in Libyen hat US-Präsident Barack Obama das Vorgehen des Regimes aufs Schärfste verurteilt. „Das Leiden und Blutvergießen ist abscheulich und inakzeptabel“, erklärte er in Washington. Seine Regierung werde alle Optionen ausschöpfen, um darauf zu reagieren. Obama brach sein Schweigen hinsichtlich der blutigen Unruhen, nachdem die USA erfolgreich begonnen hatten, amerikanische Staatsbürger aus dem Land in Sicherheit zu bringen.
Die Sorge um die Zukunft des wichtigen Lieferlandes Libyen trieb den Ölpreis an den internationalen Rohstoffmärkten weiter in die Höhe. In Asien stieg der Preis für ein Barrel (159 Liter) Rohöl am Donnerstag auf nahezu 99 Dollar. An der New Yorker Terminbörse NYMEX stieg der Preis für ein Barrel der US-Sorte West Texas Intermediate (WTI) zuvor um 3,5 Prozent auf knapp 99 Dollar. In London hatte der Ölpreis die Marke von 110 Dollar übersprungen. Ein Barrel der Sorte Brent notierte im Terminhandel bei mehr als 111 Dollar. Damit lagen die Preise so hoch wie seit September 2008 nicht mehr. Die Spritpreise in Deutschland erreichten ebenfalls ein Hoch. Der Durchschnittspreis für einen Liter Superbenzin stieg auf 1,50 Euro. Diesel kostete nach Angaben aus der Mineralölindustrie im Schnitt 1,40 Euro.
Mit Material von dpa/dapd/rtr/AFP