Nach und nach kommen weitere Fälle ans Tageslicht. Innerkirchliche Opposition fordert ein “sichtbares Zeichen der Reue“.
Hamburg. Nachdem neue Fälle von sexuellen Missbrauch an krichlichen Einrichtungen bekannt wurden, wächst der Druck auf Papst Benedikt XVI.. Das Oberhaupt der katholischen Kirche solle Farbe bekennen im Missbrauchsskandal in katholischen Einrichtungen, das fordert die Reformbewegung „Wir sind Kirche“. „Denn Joseph Ratzingers Amtszeit als Münchner Erzbischof von 1977 bis 1982 gehört genau zu den Jahren, um die es bei den Missbrauchsfällen geht“, sagte „Wir sind Kirche“- Sprecher Christian Weisner in München. Es dränge sich die Frage auf, ob er damals Kenntnis von solchen Übergriffen gehabt habe – und falls ja, wie er damit umgegangen sei.
Am Sonntag gab es neue Vorwürfe. Sie richteten sich gegen eine frühere Nonne der Berliner Hedwigschwestern. In der ZDF-Sendung „Mona Lisa“ berichtete eine ehemalige Kinderheim-Bewohnerin, die Nonne habe sie in den 50er und 60er Jahren jahrelang missbraucht. Das heute 60- jährige Opfer spricht von ständigen Berührungen im Intimbereich seit dem achten Lebensjahr: „Man hört immer nur von den Priestern, dabei waren’s doch die Nonnen genauso.“ Man habe Kontakt aufgenommen zu der heute 79-Jährigen, sagte Thomas Gleißner, Pressesprecher der Hedwigschwestern. Die Frau sei 1986 aus dem Orden ausgetreten. „Sexuelle Dienstleister“ an Odenwaldschule
Auch außerhalb der katholischen Kirche wurden Missbrauchsfälle bekannt – an der renommierten Odenwaldschule in Heppenheim (Hessen). Betroffene berichteten unter anderem, sie seien von 1970 bis 1985 von Lehrern als „sexuelle Dienstleister“ fürs Wochenende eingeteilt worden. „Wir haben die große Befürchtung, dass es tatsächlich mehr sind als die Namen, die wir bis jetzt kennen“, sagte Schulleiterin Margarita Kaufmann. Am Montag würden Briefe an alle Altschüler versandt, die zur fraglichen Zeit an der Schule waren. Sie gehe von einem Rücktritt des Schulvorstands aus, erklärte Kaufmann in der „Frankfurter Rundschau“ (Montag-Ausgabe). Als erste Konsequenz werde es neben der pädagogischen künftig eine institutionalisierte Heimleitung geben. Zudem werde die für Juli geplante Jubelfeier zum 100-jährigen Schulbestehen – sofern sie stattfindet – andere Akzente erhalten, sagte sie dem „Mannheimer Morgen“ (Montag-Ausgabe). Denkbar sei eine Fachtagung zum Thema sexueller Missbrauch mit Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU).
Schavan hatte mit Blick auf die Missbrauchsfälle der „Bild am Sonntag“ erklärt: „Ich werde in den nächsten Tagen mit dem Präsidenten der Kultusministerkonferenz und den Vorsitzenden der Lehrerverbände darüber beraten, welche konkreten Maßnahmen wir ergreifen, um weiteren Fällen von Missbrauch vorzubeugen, Opfern zu helfen und damit Vertrauen auch bei Eltern wiederherzustellen.“ Der Vatikan will Klarheit und Gerechtigkeit für Missbrauchsopfer in katholischen Einrichtungen. Das geht aus einer Notiz der vatikanischen Tageszeitung „Osservatore Romano“ hervor, die sich auf die Missbrauchsfälle in Deutschland und dabei vor allem auf die betroffenen Regensburger Domspatzen bezieht. Der Heilige Stuhl unterstütze die Diözese in deren Bemühungen, im Sinne der Vorgaben der Deutschen Bischofskonferenz „die schmerzliche Frage entschieden und in offener Weise zu untersuchen“, heißt es darin.
Nach Angaben des kirchlichen Sonderbeauftragten und Trierer Bischofs Stephan Ackermann soll für die Opfer nun eine Hotline eingerichtet werden. Kurienkardinal Walter Kasper forderte kirchenintern eine „ernsthafte Reinigung“. Am Freitag waren Details zu den Jahre zurückliegenden Missbrauchsfällen im oberbayerischen Kloster Ettal und bei den Regensburger Domspatzen bekanntgegeben worden. Ähnliche Fälle gab es auch bundesweit in etlichen anderen Bistümern. Das Bistum Hildesheim teilte am Wochenende mit, einen Wolfsburger Pfarrer suspendiert zu haben, weil dieser vor mehr als 30 Jahren einen Jungen missbraucht habe. Das Opfer habe bis vor kurzem aus Scham geschwiegen.
Auch der Bruder des Papstes, Georg Ratzinger (86), müsse sich Fragen zum Missbrauchsskandal gefallen lassen, sagte Weisner. Der Kirchenmusiker Georg Ratzinger hatte die Regensburger Domspatzen von 1964 bis 1994 geleitet. „Ich habe nichts davon gewusst“, betonte der Papst-Bruder jedoch bereits am Sonntag in einem Interview mit der römischen Tageszeitung „La Repubblica“. Auch der Regensburger Bischof Gerhard Ludwig Müller im „Osservatore Romano“ erklärte, dass die „in Erinnerung zurückgerufenen“ Missbrauchsfälle seit Ende der 50er Jahre nicht Georg Ratzingers Amtszeit beträfen.
Als Zeuge stünde er eventuellen Ermittlungen aber zur Verfügung, sagte Georg Ratzinger. Er bedauerte eine „Feindseligkeit“ hinter einigen Behauptungen: „Ich spüre teilweise eine Feindseligkeit der Kirche gegenüber, die bewusste Intention, schlecht über die Kirche zu reden.“ In Italien hatten die deutschen Missbrauchsfälle schlagartig an Aufmerksamkeit gewonnen als bekanntwurde, dass es auch um die Regensburger Domspatzen geht, die vom Papst-Bruder geleitet wurden.
Der „Bild“-Zeitung sagte Ratzinger: „Bei uns ging es streng zu, aber das war nötig, weil ja Leistung gefordert wurde.“ Der Regisseur und Komponist Franz Wittenbrink, der bis 1967 im Regensburger Internat der Domspatzen lebte, sagte dem Magazin „Der Spiegel“: „Warum der Papstbruder Georg Ratzinger, der seit 1964 Domkapellmeister war, davon nichts mitbekommen haben soll, ist mir unerklärlich.“ Er sprach von einem „ausgeklügelten System sadistischer Strafen verbunden mit sexueller Lust“. Der damalige Internatsdirektor habe sich „abends im Schlafsaal zwei, drei von uns Jungs ausgesucht, die er in seine Wohnung mitnahm“. Dort habe es Rotwein gegeben, der Priester habe mit Minderjährigen masturbiert. Die heutige Leitung der Domspatzen betont jedoch, dass der Geist des Hauses nichts mehr mit den früheren Vorkommnissen zu tun habe.
„Wir sind Kirche“-Sprecher Weisner verlangt von den Bischöfen ein sichtbares Zeichen der Reue. „Eine auf einer Pressekonferenz abgelesene Entschuldigung reicht nicht aus.“ Stattdessen solle die Deutsche Bischofskonferenz etwa eine gut dotierte Stiftung zur Vorbeugung gegen sexuellen Missbrauch gründen, sagte Weisner. Einen Runden Tisch aller Betroffenen hält dagegen der Staatssekretär im Bundesjustizministerium, Max Stadler (FDP), für dringender denn je. Wenn sich alle Beteiligten darauf verständigten, dann könne auch über Entschädigungen bereits verjährter Fälle geredet werden, sagte Stadler.