Hamburg. Im Podcast erzählt Klaus Püschel von einem 37 Jahre alten Kriegsopfer. Wie die Rechtsmediziner seine Identität klären konnten.
Der Himmel ist verhangen an diesem Dezembertag im Jahr 2014. Es ist kalt und diesig. Und unter den Nieselregen mischen sich einzelne Schneeflocken. Ein Wetter wie bestellt für die gedrückte und angespannte Stimmung auf dem Friedhof Öjendorf. Einer an diesem Ort jedoch ist ungewöhnlich aufgewühlt, rastlos und ruhelos.
Es ist ein ganz besonderer Tag für Franco Roscini. Der Italiener hofft, dass ihm geholfen wird, einen Jahrzehnte währenden Lebenstraum zu erfüllen: seinen im Zweiten Weltkrieg verschollenen Vater wiederzufinden und endlich in der heimatlichen Familiengruft begraben zu können – Seite an Seite mit seiner geliebten Frau.
70 Jahre hatte die Familie nach Alberto Roscini gesucht
70 Jahre lang hatte die Familie verzweifelt nach Alberto Roscini gesucht, der an einem der letzten Tage des Zweiten Weltkrieges gestorben und anonym bestattet worden war. Jetzt hat das Hamburger Institut für Rechtsmedizin den Fall übernommen und exhumiert auf dem Friedhof Öjendorf die Toten aus zehn Gräbern.
Recherchen der Familie des verschollenen Soldaten haben ergeben, dass der im Alter von 37 Jahren umgekommene Soldat anonym in einem dieser zehn Gräber liegen soll. Ein DNA-Abgleich soll Gewissheit bringen, welcher der Toten der Vermisste Alberto Roscini ist.
Ein ungewöhnlicher Einsatz für die Rechtsmediziner
„Ich bin froh, dass wir Franco Roscini, dem Sohn des verschollenen Soldaten, bei seiner Suche entscheidend helfen konnten“, sagt Prof. Dr. Klaus Püschel im Crime-Podcast „Dem Tod auf der Spur“ des Abendblattes im Gespräch mit Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher. „Es ist die Faszination, nach all der Zeit einen Toten zurückzugeben an seine Familie, und das mit unserem Sachverstand, mittels DNA-Analyse“, begründet der Direktor des Hamburger Instituts für Rechtsmedizin den ungewöhnlichen Einsatz.
Püschel ist nicht nur ein erfahrener forensischer Profi, sondern auch immer wieder begeisterungsfähig für besondere Fälle. „Alte Knochen interessieren mich immer, zum Beispiel auch historische Moorleichen. Ich habe mich auch viel mit Toten aus dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt, unter anderem mit abgestürzten Piloten.“
Roscini wurde 1945 von einem Granatsplitter tödlich getroffen
Der italienische Soldat Alberto Roscini war in den letzten Kriegsjahren von Hitlers Truppen als „Verräter“ eingestuft und in Stammlagern zur Zwangsarbeit gezwungen worden. Immer wieder schickte der Italiener zu jener Zeit Briefe an seine Frau Lidia. Seinen Sohn Franco hatte er zu diesem Zeitpunkt schon mehr als drei Jahre nicht mehr gesehen. Der Junge war mittlerweile sechs. Eine Postkarte mit liebevollen Worten an den Sohn trug der Vater bis zuletzt bei sich – auch, als er am 12. April 1945 von einem Granatsplitter tödlich getroffen wurde.
Ein Kamerad Roscinis nahm die Postkarte an den Sohn sowie die Brieftasche des gefallenen Soldaten an sich, um beides dessen Angehörigen in Perugia zu bringen. Deshalb konnte der Tote später nicht mehr identifiziert werden und wurde anonym beerdigt.
Der Tag der Exhumierung begann sehr geheimnisvoll
Bis im Dezember 2014 seine Gebeine exhumiert wurden. Die Identifizierung konnte beginnen. „Wir als Gerichtsmediziner suchen nicht nur Mörder, sondern es gibt auch Opfer, hinter denen eine Familie steht und denen wir helfen können“, sagt Püschel über diesen besonderen Fall. „Es ist fantastisch, dass man durch die Untersuchung von Gebeinen eine ganze Familie beglücken und befrieden kann.“
Der Tag begann sehr geheimnisvoll, erinnert sich Püschel: „Da standen wir als vermummte Gestalten um die offenen Gräber, dazu der Nebel, der über den Friedhof zog, und die vereinzelten Schneeflocken, die um uns herum wirbelten.“ Mit dabei sind zwei Experten aus seinem Team, die Anthropologin Eilin Jopp und der Biologe Oliver Krebs.
Anthropologen haben die Knochen vorsichtig freigelegt
Bei der Ausgrabung auf dem Friedhof ist bekannt, in welcher Tiefe die Toten liegen. „Die ersten 50 bis 60 Zentimeter konnten wir mithilfe eines kleinen Schaufelbaggers abtragen lassen. Aber danach mussten wir extrem vorsichtig vorgehen.“ Nun stiegen die Anthropologen in die Gräber und haben auf Knien mit Schaufeln, Kellen und Bürsten die Skelette Knochen für Knochen freigelegt.
„Ich habe Franco Roscini an den Gräbern kennengelernt“, erzählt Püschel. Der Italiener ist gemeinsam mit seinem Sohn Roberto zu diesem Termin angereist. „Er hat sich sehr bedankt, dass wir uns so viel Mühe machen. Wenn man die persönliche Geschichte erfährt, die dahinter steckt, motiviert einen das noch mehr. Später fuhr Franco Roscini mit uns ins Institut für Rechtsmedizin und ließ sich eine Speichelprobe abnehmen.“
Der Soldat wird im Familiengrab der Roscinis beerdigt
Doch es dauert noch Wochen, bis der Rentner Gewissheit bekommt, dass es sich bei dem Toten wirklich und zweifelsfrei um seinen Vater handelt. Franco Roscini ist überglücklich, seinen Vater endlich in seiner Heimatstadt beerdigen zu können, und lädt die Hamburger Fachleute aus der Rechtsmedizin zu der Gedenkfeier nach Perugia ein. Mehrere Würdenträger des Ortes halten feierliche Reden, die Stimmung ist festlich und würdevoll.
Püschel, Eilin Jopp und Oliver Krebs können miterleben, wie schließlich ein kleiner Sarg, geschmückt mit einer italienischen Flagge, gesegnet und in der Heimaterde im Familiengrab der Roscinis beerdigt wird – der Weltkriegssoldat neben seine Frau gebettet. Und sie erleben den sehr bewegten Sohn, der zusammen mit seiner Familie in der ersten Reihe der Kathedrale sitzt und dem vor Rührung die Tränen in die Augen steigen.
Trauer und Glück sind in diesem Moment miteinander verwoben. Trauer um den Vater, der viel zu früh unter dramatischen Umständen hat sterben müssen, und Freude darüber, dass es ihm mit seiner Hartnäckigkeit gelungen ist, 70 Jahre nach dem Ableben des Seniors seine Eltern im Tod zu vereinen.