Avignon. Im Pelicot-Prozess wurden alle Angeklagten schuldig gesprochen. Die Richter entlarvten ihre schrecklichen Motive auf geschickte Weise.
Der Prozess des Serienvergewaltigers Dominique Pelicot und seiner Komplizen ist am Freitag mit den erwarteten Schuldsprüchen zu Ende gegangen. Und mit zwei ebenso klaren Siegerinnen: Gisèle Pelicot – und ihre Forderung, die Schande müsse „die Seite wechseln“.
Ebenso wichtig wie das Strafmaß war der Prozess, und zwar im wahrsten Wortsinn: Als Fortentwicklung der Debatte über Gewalt an Frauen. Auch deshalb – nicht nur wegen der Monstrosität des Geschehenen – ist es ein historischer Prozess. Zumindest für Frankreich könnte er zu einer Zäsur wie anderswo #metoo werden: Dann nämlich, wenn die Opfer das Schamgefühl wirklich an die Täter weiterreichen können.
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Das wäre auch ein Verdienst des Gerichtes. Die fünf Berufsrichter, angeführt von Roger Arata, entlarvten über die vergangenen Monate auf geduldige und geschickte Weise die tieferen Motive dieser schier unglaublichen Affäre mit einer jahrelang immer wieder betäubten, von ihrem eigenen Gatten geschändeten und weitergereichten Frau.
Klar ist auch: Dieser Fall war mehr als eine unfassbare Lokalmeldung, die weltweit Neugier weckte. Er warf ein Schlaglicht auf vielenorts verdrängte, wenn nicht tabuisierte Themen: Gewalt in der Ehe, zudem aber Internetpornografie sowie sexuelles Gefügigmachen mit Schlafmitteln, Partydrogen oder KO-Tropfen. Für viele war „Avignon“ noch mehr, nämlich ein hochpolitischer Prozess über den „Patriarchalismus“ (so Gisèle Pelicot) und die „Kultur der Vergewaltigung“ (so die Frauenverbände).
Psychoanalytikerin: Angeklagte seien hochgradig gestört
Die französische Psychoanalytikerin Elisabeth Roudinesco war damit nur halb einverstanden. Allen Expertisen zufolge seien Dominique Pelicot und die Mitangeklagten „keine normalen Männer“, sondern hochgradig gestört oder pervers, erklärte sie. „Deshalb ist dieser Prozess in meinen Augen kein Prozess der Maskulinität oder des Patriarchats“, urteilt Roudinesco.
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Bestätigt wurde sie durch Aussagen der Angeklagten: Dominique Pelicot und andere räumten, teils freimütig ein, sie hassten widerspenstige Frauen, sie wollten sie beherrschen, unterwerfen, eben vergewaltigen. Unnötig zu sagen: Das ist ein Verbrechen; und wer einen anderen Menschen zu dem Zweck auch noch betäubt – eine der perfidesten und absolutesten Formen von Dominanz –, macht sich laut Strafrecht eines erschwerenden Umstandes schuldig.
Die Verteidigerinnen waren in ihrer Rolle, wenn sie vor einem kollektiven gesellschaftspolitischen Verdikt warnten und eine individuelle Beurteilung jedes Angeklagten verlangten. Ein Gericht, sagten sie, ist nunmal kein TV-Studio, kein Stammtisch, kein Parlament.
Gisèle Pelicot bringt dem Kampf gegen sexuelle Gewalt neue Kraft
Aber die politischen Aspekte des Falles waren auch nicht zu übersehen. Als Gerichtsbesucher staunte man: Nachdem sie ein Jahrzehnt immer wieder geschunden worden war, erlebte Gisèle Pelicot vor Gericht ein zweites Mal systematische Attacken auf ihre Integrität als Frau. Dazu gehörten die immer wieder kehrenden Zweifel an ihrer passiven Rolle während der Gewaltakte.
Es brauchte Mut, sich monatelang einer Masse von mehr als 50 Angeklagten zu stellen. Gisèle Pelicot hatte ihn. Wenn sie nun über die Landesgrenzen hinaus den Status einer feministischen Ikone erhält, dann nicht ohne Grund: Die Französin gab dem weltweiten Kampf gegen gewalttätige Ehemänner oder Internetbekanntschaften ein Gesicht und neue Kraft. Sie wird weit über den Prozess hinauswirken. Staatsanwältin Laure Chabaud gab ihrer Hoffnung Ausdruck, dass das Urteil „das kollektive Bewusstsein“ schärfe und „die Erziehung der Söhne“ verbessere.
Frauen schützen: Diese Maßnahmen ergreift die französische Regierung
Die Regierung in Paris hat bereits diverse Maßnahmen ergriffen. So wird Betäubungsopfern erstmals geholfen: Arzttests, die eine Frau vornimmt, wenn sie nachträglich den Verdacht hegt, dass sie mit Drogen und dergleichen gefügig gemacht worden war, werden in Frankreich neu von der Krankenkasse erstattet. Und das ist wohl erst der Anfang: Expertinnen verlangen auch eine polizeiliche oder juristische Reaktion, weil das Ausmaß der „sexuellen Unterwerfung“, wie man in Frankreich sagt, sträflich unterschätzt werde. Gerichtsklagen bleiben sehr selten – und das nicht, weil das Phänomen selten wäre.
Vergewaltigungsopfer werden zudem in Frankreich ihre Anzeige schon im Krankenhaus deponieren können. Polizisten müssen also die Wache verlassen und das Krankenbett aufsuchen. Ferner will die Regierung Frauenhäuser besser unterstützen. Statistisch gerechnet sind allein während des Pelicot-Prozesses in Frankreich 30 Frauen durch die Gewalt ihrer – oder seltener: anderer – Männer umgekommen.
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Pornographie: Online-Portale können Täter befähigen
Schon während des Prozesses wurde die Frage diskutiert, wie Vergewaltigung besser zu definieren sei. Soll sie bereits gegeben sein, wenn die Frau nicht explizit zum Sex zugestimmt hatte, das heißt: Ist „nur ein Ja ein Ja“? Einige Feministinnen verlangten dies in Avignon, andere sind dagegen: Sie befürchten, dass die Frage, ob eine Vergewaltigung vorlag, in dem Fall zu stark vom Verhalten der Frau – und damit weniger des Vergewaltigers – abhänge. Darüber wird das Parlament in Paris entscheiden müssen.
Diese sehr politische Debatte verdrängte ein nicht minder wichtiges Element der Affäre Pelicot, nämlich den Einfluss der digitalen Pornographie. Dominique Pelicot hatte seine Komplizen über die Webseite „coco“ eingeladen. Allein schon Dateinamen wie „à son insu“ („gegen ihren Willen“) machten klar, worum es ging – nämlich um sexuellen Missbrauch. Unklar blieb oft nur, ob es sich um bloße sexuelle Fantasien handelte – oder ob sie auch in die Tat umgesetzt wurden. Eine bewusste Ambivalenz: Wie bei dem Prozess bekannt, wurde sind die zwei häufigsten Suchwörter auf Porno-Suchmaschinen „Vergewaltigung“ und „Inzest“ – zwei im Leben schwer bestrafte Tatbestände. Aber nicht im Internet.
„Coco“ ist heute geschlossen, doch andere Portale sind längst an die Stelle getreten. Hier herrscht Handlungsbedarf weit über den Prozess hinaus.