Avignon/Paris. Der Vergewaltigungsprozess von Avignon hat mit Strafen für alle Angeklagten geendet. Zum Urteil fand Gisèle Pelicot bewegende Worte.

Sogar der Präsident musste hintanstehen, als Gisèle Pelicot im Gerichtsgebäude eintraf: Die französischen Live-Sender berichteten am Donnerstagmorgen nicht über Emmanuel Macron, der zeitgleich auf dem Flughafen des wirbelsturmversehrten Überseedepartements Mayotte eintraf. Ein Kamerapulk folgte stattdessen in der Provence-Metropole Avignon der neuen feministischen Ikone, als sie in Begleitung eines Anwaltes den Verhandlungssaal A betrat.

An der historischen Stadtmauer hatte sie ein Riesentransparent mit der schlichten Aufschrift „Merci Gisèle“ begrüßt. Gleichlautende Rufe des Publikums folgten der 72-jährigen Rentnerin, die lächelnd Hände schüttelte. „Danke für Ihren Mut, danke für Ihre Würde, danke, dass Sie Ihre Geschichte mit uns geteilt haben“, rief eine ältere Frau und meinte damit die jahrelangen Vergewaltigungen, die Gisèle Pelicot durch ihren Ex-Gatten Dominique und rund 70 Komplizen erleiden musste.

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Die Angeklagten mussten sich ebenfalls einen Weg durch die Zaungäste bahnen – manche verdeckten ihr Gesicht. Einige hatten eine Tasche oder einen Koffer dabei, da sie damit rechnen mussten, im Anschluss an die Urteilsverkündung ohne Verzug inhaftiert zu werden. Vertreterinnen des Frauenverbandes Les Amazones d’Avignon versuchten ihnen Orangen zuzustecken und „Frohe Weihnachten“ zu wünschen; die Polizei hinderte sie aber an dieser ironischen Aktion.

Prozess in Avignon geht zu Ende: So reagierte Gisèle Pelicot

Dem Urteil der fünf Richter war eine dreitägige Klausur vorausgegangen. Entschieden hatten sie per geheimer Mehrheitsabstimmung. Der Hauptangeklagte Dominique Pelicot erhielt die Maximalstrafe von 20 Jahren. Der heute 72-jährige Ex-Elektriker soll seine Frau in ihrem Haus in der Provence-Gemeinde Mazan jahrelang immer wieder betäubt haben, um sie dann via Internet mindestens 70 Männern zum sexuellen Missbrauch anzubieten.

Gisèle Pelicot erklärte vor zahllosen Kameras und Mikros, sie respektiere die Urteile. Nach dieser „schweren Prüfung“ denke sie an ihre Kinder und Enkelkinder, und dazu auch an die „nicht anerkannten Opfer“ von Vergewaltigungen: „Ich möchte, dass sie wissen, dass wir denselben Kampf teilen.“

Pelicot dankte auch ihren Anwälten und dem Publikum für die breite Unterstützung, aus der sie Kraft geschöpft habe. „Ich habe heute Vertrauen in unsere Fähigkeit, gemeinsam eine Zukunft in die Hand zu nehmen, in der jeder, Frau und Mann, in Harmonie, mit Respekt und in gegenseitigem Verständnis leben kann“, sagte Pelicot. Sie hoffe, dass die Gesellschaft die Debatten, die während des Prozesses geführt wurden, aufgreifen konnte.

Hauptangeklagter muss sich in zwei weiteren Fällen verantworten

Dominique Pelicot war geständig, hatte in seinem Schlusswort Reue gezeigt und sich bei seiner Ex-Frau Gisèle entschuldigt. Zuvor hatte er – ohne Beweise – erklärt, er sei als Achtjähriger selber vergewaltigt worden. Ob er Berufung einlegen wird, blieb vorerst offen. Der „XXL-Perversling“, wie ihn französische Medien nennen, wird sich auch noch in zwei anderen Fällen verantworten müssen, es geht um die mutmaßliche Vergewaltigung einer Immobilienangestellten und einen mutmaßlichen Sexualmord. An mindestens einem Tatort wurden Pelicots DNA-Spuren gefunden.

Gisèle Pelicot und ihr Anwalt Stephane Babonneau (rechts) kurz vor der Urteilsverkündung in Avignon.
Gisèle Pelicot und ihr Anwalt Stephane Babonneau (rechts) kurz vor der Urteilsverkündung in Avignon. © AFP | Clement Mahoudeau

Von den 50 übrigen Angeklagten wurde kein einziger freigesprochen. Sie erhielten Strafen von drei bis fünfzehn Jahren. Zwanzig Verurteilte kamen sogleich in Polizeigewahrsam. Sechs weitere verließen das Gericht in Freiheit, da sie ihre Strafe seit 2020 bereits verbüßt haben. Das Gericht warf den Verurteilten vor, sie hätten Pelicots Einladung, sich über seine reglose Frau herzumachen, bereitwillig angenommen. Um eine Einwilligung hätten sie das Opfer nie ersucht. Deshalb handle es sich um einen klaren Akt der Gewalt.

Die Staatsanwaltschaft hatte – um meist drei bis vier Jahre – höhere Strafen verlangt. Feministinnen kritisierten die Urteile vor dem Gericht als zu mild; einzelne sprachen von einer „Schande“. Ein Angeklagter wurde beim Verlassen des Saales attackiert. Auch umgekehrt gab es unschöne Szenen, als ein Anwalt die Frauenrechtlerinnen als „hysterisch“ beschimpfte. Fast schien es, als ob sich die starke Spannung nach fast vier Monaten Prozess Bahn brechen wollte.

Verteidiger nannten Vergewaltigungen „Sexspiel“

Die Verteidigerinnen waren im Prozess mit ihren Argumenten kaum durchgedrungen. Anwältin Nadia El Bouroumi, die den Prozessverlauf auch über die sozialen Medien kommentierte, behauptete, ihre beiden Klienten seien selber „Opfer“ – nämlich von Dominique Pelicot. So wie er seine Gattin jahrzehntelang hintergangen und über sein wahres Ich getäuscht habe, so erfolgreich habe er seine Mitangeklagten gesteuert, um seine morbiden sexuellen Fantasien zu realisieren.

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Das Hauptargument der Verteidigung lautete, die nächtlichen „Besucher“ der Pelicot-Villa hätten glaubten, nur einem Sexspiel mit einem ungleichen Ehepaar beizuwohnen; sie hätten keinerlei Absicht zur Vergewaltigung gehabt oder ausgedrückt. Damit sei der Tatbestand nicht vollständig erfüllt.

Das Gericht sah die Absicht aber als gegeben an. Trotz der offensichtlichen Reglosigkeit Gisèle Pelicots hätten die Täter nicht von ihr abgelassen. Die Ausnützung von Wehrlosigkeit gilt nach französischem Recht als erschwerender Umstand. Die höchsten Haftstrafen erhielten jene Angeklagten, die mehrmals – bis zu sechsmal – an den Gewaltorgien Pelicots teilgenommen hatten. Die meisten davon hatte er gefilmt.

Angeklagte stammten aus allen Teilen der Gesellschaft

Die am Rande des Prozesses viel diskutierte Frage, ob dieser Verbrechensserie eine „Kultur der Vergewaltigung“ zugrunde lag, wusste das Gericht nicht zu beantworten. Es äußerte sich auch nicht nur Frage, ob es sich bei den Tätern um „normale Männer“ aus allen Alters- und Berufskategorien handelte – oder um pathologische Kriminelle.

Auch die Kinder des Ehepaars Pelicot, Caroline Darian (2. v. l.) und David Pelicot (r.) waren bei der Urteilsverkündung in Avignon dabei.
Auch die Kinder des Ehepaars Pelicot, Caroline Darian (2. v. l.) und David Pelicot (r.) waren bei der Urteilsverkündung in Avignon dabei. © AFP | Clement Mahoudeau

Die Angeklagten gaben sich selber als Durchschnittsbürger, die anfangs nur eine Pornoseite konsultiert hätten, bevor sie von Dominique Pelicot manipuliert worden seien. Einer sagte, er lebe so korrekt, dass er nicht einmal bei Rot über den Fußgängerstreifen gehen würde. Dominique Pelicot habe ihn angelogen. Ein anderer Verurteilter stammte selber aus einer Familie voller Gewalt und einer inzestuösen Beziehung seiner Mutter zu ihrem Vater.

Dennoch: Als sie in Pelicots Schlafzimmer eine bewegungslose Frau vorfanden, tragen nur zwei der Täter den Rückzug an, wie die Staatsanwaltschaft feststellte. Und keiner habe je die Polizei in Kenntnis gesetzt. Viele Feministinnen, die vor dem Gerichtsgebäude in Avignon seit Prozessbeginn im September demonstrierten, sahen darin einen Beleg, dass es durchaus ein kollektives Verhalten dieser Männer gegeben habe. Ein Transparent forderte deshalb die Höchststrafe von „20 Jahren für alle“.

Die Angeklagten nahmen die Urteile teils mit Kopfschütteln auf; ihre Familienangehörigen protestierten in einem Nebensaal lauthals. Einige verließen das Gericht voller Wut. Die Polizei bezog Stellung, um etwaige Ausschreitungen zu verhindern. Aber auch Caroline Darian, Tochter von Gisèle und Dominique Pelicot, prangerte die ihrer Meinung nach zu milden Urteile an. Gisèle Pelicot reagierte wie ihr Ex-Gatte, als das Urteil verlesen wurde: kaum.