Berlin. Zwischen Ärzten und Patienten besteht ein besonderes Vertrauensverhältnis. Was Betroffene tun können, wenn Ärzte ihre Stellung missbrauchen.
„Ich habe nie daran gedacht, dass so was passieren kann.“ Joanas Blick wandert nach unten, während sie das sagt: „In unserer Gesellschaft ist es selbstverständlich, dass Ärzte helfen.“ Doch Joana wurde vor neun Jahren, im Sommer 2015, von ihrem Hausarzt sexuell missbraucht.
Auch Hanna hat bei ihrer Gynäkologin Traumatisches erlebt. Sechs Jahre lang konnte sie danach nicht zu einer Untersuchung gehen. „Und das, obwohl ich Krankenschwester bin und weiß, wie wichtig Vorsorge ist“, erzählt sie. Hanna war in einem ähnlichen Alter wie Joana, 18, als es passierte.
In Joanas Fall hat ein Gericht den Hausarzt wegen sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses rechtskräftig verurteilt (Az. 19 Ls 201 Js 127728/15). Hanna hingegen hat sich nicht über die Ärztin beschwert. Doch wann liegt ein Übergriff vor, und wie kann man sich schützen?
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Missbrauch beim Arzt – „Ich dachte nur: Was ist da gerade passiert?“
Die Pflichten von Ärzten sind in den Berufsordnungen der Länder geregelt. Ärzte müssen sich an das Gebot der Abstinenz halten, erklärt Meinhard Korte, Ombudsmann für Fälle von Missbrauch in ärztlichen Behandlungen der Landesärztekammer Hessen. Er sagt: „Jedes Verhalten und jede Handlung zur Befriedigung eigener Bedürfnisse, die nicht zum Behandlungsauftrag gehören, stellen grundsätzlich eine Abstinenzverletzung und tendenziell auch einen Übergriff dar.“
„Ein Übergriff fängt schon verbal an“, sagt Sara Grzybek. Grzybek hat „Queermed“ gegründet, eine gemeinnützige Organisation, die Menschen bei der Suche nach einer sensibilisierten Gesundheitsversorgung unterstützt. Übergriffig sind laut Grzybek Fragen, die die Grenzen des Respekts und der Intimität verletzen – zum Beispiel, wenn sie nichts mit der Diagnose zu tun haben und auf privatem Interesse beruhen.
Um verbale Grenzüberschreitungen ging es bei Joana nicht. Sie war viermal bei ihrem Hausarzt – bis zu jenem Tag im Sommer. „Er hat während der vaginalen Untersuchung Handbewegungen gemacht, die eigentlich eher der Partner bei einem machen würde. Und danach über meine Brüste gestrichen“, erzählt sie. Sie konnte nicht reagieren: Ihr Körper fror ein.
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„Während der Untersuchung habe ich es nicht verstanden, aber als ich aus der Praxis raus bin und mich in der S-Bahn hingesetzt habe, dachte ich nur: Was ist da gerade passiert?“ Auch bei den Besuchen zuvor hatte er sie auf einem gynäkologischen Stuhl untersucht. „Er hat irgendwie begründet, warum diese Untersuchung notwendig ist. Ich habe ihm vertraut“, sagt Joana. Laut dem Gerichtsurteil waren die Untersuchungen nicht medizinisch indiziert.
Verlässliche Zahlen zu Übergriffen durch Ärzte fehlen
Die Bundesärztekammer erklärt auf Anfrage, dass ihr keine Zahlen zu sexuellen Übergriffen oder sexuellem Missbrauch durch Ärzte bekannt sind. Auch dem Berufsverband der Frauenärzte e.V. liegen keine Daten zu übergriffigem Verhalten von Gynäkologen vor. Doch eine erste repräsentative Beobachtungsstudie der University of Cambridge gibt Hinweise: 2021 untersuchten Forschende „professionelles sexuelles Fehlverhalten“ durch medizinisches Fachpersonal. Dazu wurden 2503 Patienten und Patientinnen aus Deutschland im Alter von durchschnittlich 49 Jahren befragt.
- 4,5 Prozent der Frauen und 1,4 Prozent der Männer gaben an, solch ein Verhalten erlebt zu haben.
- 2,2 Prozent der weiblichen und 0,8 Prozent der männlichen Teilnehmenden berichteten über sexuellen Kontakt mit medizinischem Personal, wovon ein Drittel gegen den Willen der Patienten und vor dem 18. Lebensjahr erfolgte.
- 3,2 Prozent der Frauen und 0,6 Prozent der Männer gaben unnötige körperliche Untersuchungen an.
- 2,5 Prozent der Frauen und 0,6 Prozent der Männer schilderten sexuelle Belästigung durch medizinisches Personal.
Die Mehrheit der Täter war männlich. „Es sind statistisch überwiegend Patientinnen, die physische Übergriffe erleben, und Ärzte, von denen diese ausgehen“, sagt Meinhard Korte von der Ombudsstelle in Hessen.
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Warum in Deutschland keine konkreten Zahlen zu Übergriffen durch medizinisches Personal bekannt sind, erklärt Sara Grzybek: „Das hängt mit den Beschwerdestellen zusammen: Es gibt nicht die eine konkrete Stelle für Übergriffe im Gesundheitswesen. Auch wissen viele nicht, dass sie sich an solche Stellen wenden können.“ Es gebe kaum Material für Menschen, die sich eigenständig über Beratungen und Beschwerden informieren wollen, bemängelt auch die Antidiskriminierungsstelle des Bundes. In der Studie „Diagnose Diskriminierung“ von 2024 hat sie erstmals die Beratungs- und Beschwerdemöglichkeiten im Gesundheitsbereich untersucht.
Patienten können zum Beispiel bei den Landesärztekammern Beschwerde einreichen – was berufsrechtliche Konsequenzen zur Folge haben kann. „Das sind beispielsweise der Entzug oder das Ruhen der Approbation, was ein Berufsverbot des Arztes oder der Ärztin bedeutet“, erklärt Meinhard Korte. Teilweise steht in den Verfahren aber Aussage gegen Aussage, weshalb es nicht zu berufsrechtlichen Konsequenzen kommt, so die Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Eine Strafanzeige ist eine weitere Möglichkeit, gegen den Arzt vorzugehen.
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Betroffene Hanna: „Sie hat mir ohne Vorwarnung zwei Finger in den Po gesteckt“
Joana ging noch am selben Tag zur Polizei. Eine Polizistin habe sie am Anfang des Gesprächs gefragt, warum sie immer wieder zu dem Arzt gegangen sei. „Ich hatte mich getraut, da hinzugehen, und dann kommt so eine Aussage – das hat sich für mich so angefühlt, als wäre es meine Schuld und als hätte ich den Missbrauch durch mein Handeln verhindern können“, sagt Joana.
Hanna hat weder die Polizei noch die Ärztekammer eingeschaltet. Als sie bei ihrer Gynäkologin auf dem Stuhl lag, habe sie ihr gesagt, dass sie ihr wehtue. Das habe diese ignoriert. Plötzlich sei Folgendes passiert, erzählt Hanna: „Sie hat meinen Muttermund untersucht und mir dann ohne Vorwarnung zwei Finger in den Po gesteckt.“ Daraufhin sei sie eingefroren und habe sich nicht mehr bewegt. „Ich habe mich so geschämt und habe das niemandem erzählt“, sagt Hanna. Heute bereut sie, sich nicht an die Ärztekammer gewandt zu haben.
Doch was können Patienten unabhängig von Beschwerden oder Anzeigen tun, wenn sie das Gefühl haben, dass sich Ärzte übergriffig verhalten haben? Sara Grzybek sagt: „Ich würde erstens raten: Schau, wie es dir geht. Es kostet Kapazitäten, sich damit zu beschäftigen. Hast du dafür Ressourcen? Zweitens: Schreibe ein Erinnerungsprotokoll – was ist dir passiert? Und vertraue dich, wenn möglich, Familie und Bekannten an. Wenn es die Ressourcen zulassen, würde ich mit einer Vertrauensperson zur Beratungsstelle gehen.“
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Solche Beratungsstellen sind zum Beispiel die Patientenbeauftragten der Länder oder die Ombudsstelle in Hessen – diese sind aber nicht flächendeckend verfügbar. Die unabhängige Patientenberatung Deutschland berät als einzige übergeordnete Institution bundesweit.
Das wünschen sich die Betroffenen
Vor einem Praxisbesuch könne man sich schützen, indem man Rückfragen vorbereite, so Sara Grzybek: „Man muss nicht alles für selbstverständlich nehmen, was in der Praxis passiert. Man kann sagen, dass man das Vorgehen ganz genau verstehen will.“ Laut Grzybek solle man sich nicht schämen, schließlich habe die behandelnde Person jahrelang studiert – es sei selbstverständlich, Fragen zu stellen.
„Und wenn man merkt, dass sich etwas unwohl anfühlt, direkt kommunizieren und sagen: Ich fühle mich gerade unwohl, können wir einen Stopp machen?“, fügt Sara Grzybek hinzu. Meinhard Korte ergänzt: „Vor dem Arztbesuch ist es wichtig, sich deutlich zu machen, dass das eigene Empfinden eine Rolle spielt und dass man es sich nicht nehmen lässt, ein Verhalten als unpassend zu bewerten.“
Joana und Hanna haben beide den gleichen Wunsch: dass insbesondere Frauen nicht ihre Gefühle abgesprochen werden. Hanna sagt: „Gerade als Patientin ist man in solchen Situationen eingeschüchtert und hat Angst, dass einem nicht geholfen wird, sobald man die Stimme erhebt.“ Und Joana betont: „Ich hoffe, irgendwann hört diese strukturelle Gewalt gegen Frauen auf und dass sie überall mit Gewalt rechnen müssen. Selbst an so einem vermeintlich sicheren Ort wie dem Hausarzt. Ich hoffe, dass zehn Generationen weiter nicht mehr darüber berichtet werden muss.“