Beckdorf. Hannelore Will zog drei leibliche und 93 Pflegekinder in ihrem Backsteinhaus bei Hamburg groß. Die Geschichte einer außergewöhnlichen Frau.

Es ist eine Zahl, die auf den ersten Blick unbegreiflich scheint: Sage und schreibe 93 Kindern hat Hannelore Will aus Beckdorf bei Hamburg ein liebevolles Zuhause gegeben. Es waren Pflegekinder, die gemeinsam mit den drei leiblichen Kindern der heute 77-Jährigen in einem Backsteinhaus im Alten Land aufwachsen durften.

Doch wenn Hannelore Will über ihr Leben erzählt, das sie mit so vielen schutzlosen Wesen geteilt hat, dann beginnt man langsam zu verstehen, wie all das machbar war: mit einer grenzenlosen Liebe, die nie an irgendeine Bedingung gebunden war.

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Und doch: Im Mittelpunkt stehen mag Hannelore Will nicht. Aber die Idee, die Geschichte über ihr Engagement könnte andere Menschen inspirieren, überzeugt die Beckdorferin dann doch, mit dem Abendblatt zu sprechen. Gebürtig stammt Hannelore Will aus Bayern – genauer aus Unterfranken. Ein leichter Akzent, das gerollte R, sind geblieben. Auch wenn sie schon seit 1977 in Beckdorf lebt. Ihr Mann, inzwischen gestorben, hatte damals in Eppendorf einen Job in der Pharmakologie bekommen. So sind die Beiden in den Landkreis Stade bei Hamburg gekommen.

In ihrer Ausbildung zur Erzieherin habe sie verschiedene Praktika absolviert und unter anderem mit Pflegekindern gearbeitet. Vor dem Umzug nach Beckdorf arbeitete sie in Hessen in einem Albert-Schweitzer-Kinderdorf. Hier sei der Funke übergesprungen. „Ich fand diese Arbeit einfach großartig. Mir wurde schnell klar, dass ich selbst gerne Pflegekinder aufnehmen würde“, sagt sie.

Hannlore Will hat in ihrem Leben Unglaubliches für den Kinder- und Jugendschutz geleistet. Tag und Nacht stand ihre Tür offen für Babys und Kinder, die in ihren Herkunftsfamilien vernachlässigt, geprügelt oder missbraucht und vom Jugendamt deswegen den leiblichen Eltern weggenommen wurden. Dafür hat ihr Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nun das Verdienstkreuz am Band der Bundesrepublik Deutschland verliehen.

Ein bisschen zu viel Wirbel um ihre Person, findet Hannelore Will

„Große Menschlichkeit, außergewöhnliches Engagement und Einfühlungsvermögen, warmherzig, liebevoll, ein unschätzbarer Wert für die Gesellschaft, Jahrzehnte langer hoher persönlicher Einsatz – das sind nur einige Eigenschaften, die im Zusammenhang mit der Ordensanregung über Hannelore Wills Engagement erwähnt werden“, sagte Susanne Brahmst, Dezernentin für Soziales, Gesundheit, Jugend und Familie im Kreis Stade, in ihrer Laudatio im Jugendhaus am Vorwerk in Stade. Ein bisschen zu viel Wirbel um ihre Person, findet die Geehrte.

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Heute sitzt Hannelore Will in ihrer großen Küche. Hinter ihr hängen Fotos vieler Kinder und Jugendlicher, denen sie und ihr Mann für eine Nacht oder für viele Jahre ein echtes Zuhause gegeben haben. Mit vielen dieser Kinder, die heute erwachsen sind und alle in Lohn und Brot stehen, steht sie nach wie vor in engem Kontakt. Die Beckdorferin besitzt einen großen Tischkalender, darauf sind sämtliche Geburtstage der ehemaligen Pflegekinder eingetragen. Manche von ihnen besuchen sie täglich. Ihre Lebenswege waren nicht immer fadengerade. Aber ihnen allen konnten die Wills wenigstens etwas Stabilität fürs Leben mitgeben.

Körperliche Wunden heilen schnell, eine verletzte Seele nur langsam

Körperliche Verletzungen, die diese Kinder in ihre Pflegestelle mitbrachten, heilten meist schnell. Langsam oder vielleicht nie heilen die psychischen Blessuren. Nicht selten braucht es Jahre, damit sie wieder Vertrauen zu Erwachsenen fassen können, Ängste ablegen und wieder Menschen an sich heran lassen.

Solche Kinder sind in der Regel hochgradig traumatisiert, können oft nur sehr schwer neue Bindungen eingehen und haben kaum Selbstwertgefühl. Einige Pflegekinder, die die Wills im Laufe der Jahre aufgenommen haben, kamen direkt aus der Psychiatrie. Unkontrollierte Wutausbrüche, Bettnässen und Handgreiflichkeiten gehören dann nicht selten zum Alltag in einer Pflegefamilie.

„Natürlich wussten wir, dass die anderen Kinder keine leiblichen Kinder unserer Eltern waren. Aber das zählte für uns nicht.“

Susanne Will
Leibliche Tochter von Hannelore Will

Wie gelingt es, da die Nerven zu behalten? „Meine Mutter ist der geduldigste Mensch des Universums“, sagt Tochter Susanne Will. Hannelore Will selbst verrät ihr Rezept: „Man muss diesen Kindern ganz besonders viel Liebe entgegen bringen. Je unmöglicher sie sich benommen haben, um so verständnisvoller war ich. So merken und verstehen sie, dass ich sie annehme – so, wie sie sind.“ Drei eigene Kinder haben die Wills auch großgezogen.

Mit am Tisch sitzt Susanne, die jüngste leibliche Tochter der Wills. Wie lebt es sich zwischen all den Pflegekindern? „Für uns war das ganz normal. Das sind meine Geschwister. Bis heute bestehen da ganz enge Bindungen. Natürlich wussten wir, dass die anderen Kinder keine leiblichen Kinder unserer Eltern waren, aber das zählte für uns nicht. Es wurde gestritten, geweint und gespielt, wie in allen anderen Familien“, sagt die heute 43-Jährige.

Hannelore Will: „Ganz furchtbarer Moment“ mit dem ersten Pflegekind

Auch sie und ihr Ehemann Ismail Yaylaoglu leben mit eigenen und Pflegekindern in dem großen Haus in Beckdorf. Diese Aufgabe sei nur mit dem Partner, mit der ganzen Familie zu schaffen. Genau wie ihr Vater bei der Betreuung ihrer Pflegegeschwister dabei war, ist auch ihr Mann immer dabei. Der Polizist arbeitet in Harburg „mit Leib und Seele“ im Bereich Jugendschutz.

An einen „ganz furchtbaren Moment“ im Laufe ihrer Arbeit als Pflegemutter erinnert sich Hannelore Will. Ihr erstes Kind, das vom Jugendamt in Obhut genommen wurde, war ein Baby, das die Mutter nach kurzer Zeit zurückhaben wollte, als diese volljährig wurde. Gemeinsam mit dem zuständigen Mitarbeiter des Jugendamtes brachte Hannelore Will das Baby wieder zur Mutter.

Wenige Monate später sei ihr das Kind wieder gebracht worden. Die leibliche Mutter sei nicht in der Lage gewesen, ihr Kind zu versorgen. „Als wir wieder im Auto saßen, hat mich der kleine Kerl nicht mehr aus den Augen gelassen. Da habe ich ihm versprochen, dass er da nie wieder hin muss.“ In solchen Momenten, so Hannelore Will, entstehe eine ganz feste Bindung zu diesen Kindern.

Wenn die Kinder 18 sind, zieht der Staat sich zurück

„Es gibt jede Menge Menschen, die keine eigenen Kinder bekommen können. Pflegekinder mögen keine leiblichen Kinder sein, aber man liebt sie genau so sehr wie eigene Kinder. Diese Erfahrung habe ich in all den Jahren gemacht“, sagt Hannelore Will.

Natürlich, so die Beckdorferin, müsse die Chemie stimmen. Den Zweiflern könne sie mit auf den Weg geben, dass die Angst, diese Kinder wieder abgeben zu müssen, mitunter unbegründet sei. „Nach zwei Jahren, die ein Pflegekind in der Pflegefamilie gelebt hat, kann es nicht mehr so einfach da rausgeholt werden“, sagt sie. Die 77-Jährige wünscht sich, dass mehr Menschen diesen Kindern, die einen schweren Start ins Leben hatten, eine zweite Chance bieten.

Pflegemutter mahnt: Kinder brauchen mehr Zeit, um im Leben Fuß zu fassen

Eine weitere Sache müsse unbedingt in dieser Geschichte im Abendblatt stehen, sagt Hannelore Will: „Sobald diese Kinder 18 Jahre alt sind, zieht sich der Staat aus der Verantwortung zurück. Dann fallen sie aus der Jugendhilfe raus, und der Staat investiert kein Geld mehr in die jungen Menschen. Das ist grundlegend falsch. Weil diese Kinder einen denkbar schlechten Start ins Leben hatten, brauchen sie eben mehr Zeit, um Fuß zu fassen, um sich eine eigene Existenz aufzubauen.“

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Jugendhilfe, so sagt die 77-Jährige, müsse bis zum 21. Lebensjahr greifen. Was der Staat in diesen drei Jahren glaubt zu sparen, falle ihm später mit Sicherheit auf die Füße. Nämlich dann, wenn solche Jugendlichen eben nicht in der Lage seien, sich durch Arbeit selbst zu ernähren und zum Beispiel Bürgergeld beziehen müssten.