Hamburg. Ihre neue Wahlliste könnte die Demokratie beleben – und andere Parteien aus der Sackgasse holen.

Demokratie ist die schlechteste Regierungsform“, sagte Winston Churchill 1947 im britischen Unterhaus. Und fügte hinzu: „Mit Ausnahme von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.“ Der Satz hat nichts an Gültigkeit eingebüßt.

Derzeit hadern erschreckend viele Menschen in Deutschland mit unserer Demokratie. Eine aktuelle Umfrage der Körber-Stiftung zeigt den alarmierenden Schwund: Während 2021 nur 30 Prozent der Befragten angaben, weniger großes oder geringes Vertrauen in die deutsche Demokratie zu haben, stimmen dieser Aussage nun 54 Prozent zu.

Wachsende Unzufriedenheit mit der Regierung

Die Unzufriedenheit über die zerstrittene Bundesregierung schlägt sich nicht wie sonst üblich in einem Plus für die große Oppositionspartei nieder, sondern in beträchtlichen Zugewinnen für die rechtspopulistischen Grenzgänger der AfD. Offenbar versagen sowohl die Ampel-Parteien als auch die Union darin, die Stimmungen eines inzwischen großen Bevölkerungsanteils aufzugreifen und in politische Forderungen zu übersetzen.

In der Vergangenheit hat das Frühwarnsystem der Demokratie besser funktioniert. Als die Grenzen des Wachstums Ende der Siebzigerjahre unübersehbar wurden, die Wälder starben, die Flüsse als Abwasserrohre missbraucht und die Luft schwer von Blei war, entstanden die Grünen und zogen 1983 erstmals in den Bundestag ein. Es dauerte nicht lange, und alle Parteien entdeckten ihre Liebe zur Natur oder schminkten sich zumindest grün.

Die Parteien reagieren zu wenig auf die Warnzeichen

Als in Folge des Jugoslawien-Krieges die Zahl der Asylbewerber sich 1992 vervielfachte, gewannen die rechtsradikalen Republikaner kräftig hinzu. Mit Slogans wie „Das Boot ist voll – Schluss mit Asylbetrug“ holten die Republikaner bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg fast elf Prozent.

Ein Jahr später brachen Union und Sozialdemokraten mit dem Asylkompromiss diese rechte Erfolgswelle. Auch das Aufkommen der Piratenpartei ging am politischen Berlin nicht spurlos vorüber – plötzlich spielte die Generation Internet eine Rolle in der Politik.

Nur bei der AfD war es anders, ihr Erstarken wurde nicht als Warnzeichen verstanden, sondern als Zumutung. In der nachvollziehbaren Ablehnung der AfD hat sich die Politik geradezu verkantet und verkrustet. Statt die mitschwingenden Sorgen der Wähler über die Flüchtlingszuwanderung ernst zu nehmen, setzte man lieber auf das Gegenteil eines „Jetzt erst recht“. Die Parteien haben sich immer tiefer in ihre Schützengräben eingebuddelt – und kaum eine wagt, sich zu bewegen.

Mit Sahra Wagenknecht könnten die Debatten wieder offener werden

Da ist es eine große Chance, dass Sahra Wagenknecht, die Ikone der Linkspartei, erwägt, mit einer eigenen Liste zur Europawahl anzutreten. Sie besetzt Positionen, die das erstarrte Links/Rechts-Denken sprengen. Sie plädiert für eine restriktivere Migrationspolitik wie für eine neue Friedenspolitik.

Sie ist links, aber zugleich die schärfste Kritikerin der von ihr so titulieren „Lifestyle“-Linken, denen Gendern, Identitätspolitik und politische Korrektheit über alles gehen, die soziale Verwerfungen in der Gesellschaft aber kaum wahrnehmen, weil sie nur mit sich selbst beschäftigt sind.

Ihre mögliche Wahlliste ginge zu Lasten der Linken und der AfD

Mit solchen Positionen bringt Wagenknecht die „versteinerten Verhältnisse zum Tanzen“, um mal Marx zu zitieren. Denn der Reflex, jeden Andersdenkenden als Rechten niederzumachen und damit die Diskussion zu beenden, dürfte bei ihr kaum verfangen. So öffnen sich neue Debattenräume. In vielen Punkten möchte man Wagenknecht sicher widersprechen – aber das macht Demokratie aus.

20 Prozent der Deutschen können sich „grundsätzlich vorstellen“, eine von ihr geführte Partei zu wählen. Diese Gewinne gingen vor allem zu Lasten der AfD und der Linkspartei, deren Anhänger zu 44 beziehungsweise 41 Prozent mit einem Wechsel kokettieren. Das wird die deutsche Demokratie nicht erschüttern, sondern eher stabilisieren.

Zugleich könnte Wagenknecht Themen in die Diskussion zurückholen, die vielerorts zu wenig angesprochen, ja oftmals komplett ignoriert werden. Noch eine Zahl der Körber-Umfrage ist brisant: 71 Prozent der Deutschen sind der Meinung, dass führende Leute in Politik und Medien in ihrer eigenen Welt leben, aus der sie auf den Rest der Bevölkerung herabschauen.

Mit Sahra Wagenknecht würde die Demokratie anstrengender werden, herausfordernder. Das ist eine gute Nachricht.