Hamburg. Der Wunsch nach dem Ende der Kernkraft ist stärker als die Vernunft – mit fatalen Folgen für Klima, Wirtschaft und Bürger.

Heute ist ein historischer Tag – heute endet in der Bundesrepublik die Ära der Kernkraft. Es hätte ein Tag werden können, auf den man stolz sein kann: Denn mit dem Abräumen der umstrittenen Atomkraft mit ihrem Restrisiko und dem Endlagerproblem hat das Land einen Jahrzehnte währenden Konflikt friedlich beigelegt. Über Parteigrenzen hinweg einigte sich die Politik auf ein Ausstiegsdatum. Ende gut, alles gut?

Schön wär’s.

Tatsächlich ist heute ein historischer Tag – Deutschland steigt nicht nur aus der Atomkraft aus, sondern aus allen Regeln ordentlichen Regierens. Der erste Ausstieg von Rot-Grün aus dem Jahr 2000 (damals übrigens bis zum Jahr 2032 konzipiert) war vernünftig, der zweite Ausstieg von Schwarz-Gelb 2011 kopflos, der Ausstieg heute ist verantwortungslos. Wenn sich die Welt ändert, muss sich auch Politik verändern.

Die Welt hat sich verändert – warum nicht die Politik?

Und die Welt hat sich radikal geändert. In Europa ist Krieg, die Klimakrise spitzt sich zu, die Wirtschaft schmiert ab. Aber Klimaschutz, Versorgungssicherheit, Inflationsbekämpfung oder Europapolitik spielen keine Rolle, wenn es um Ideologie geht. Die Grünen und viele Sozialdemokraten wollen lieber noch mehr Kohle verfeuern, die Netzstabilität riskieren, höhere Preise in Kauf nehmen und die europäischen Nachbarn vor den Kopf stoßen, als ihre Altvorderen zu brüskieren.

Menschlich ist das verständlich. Viele Parteilegenden möchten sich ihren Sieg nicht nehmen lassen, den sie gegen massive Widerstände errungen haben, erst auf den Bauplätzen von Brokdorf, Wyhl und Gorleben, später in den Parlamenten. Aber eine Bundesregierung sollte in der Lage sein, nicht nur die Befindlichkeiten von Alt-68ern zu bedienen. Sondern das große Ganze in den Blick zu nehmen – so wie überall sonst in Europa.

Deutschland steigt aus, die Nachbarn steigen ein

Die Schweden etwa sind schon 1980 – wenige Monate nach dem Zwischenfall im US-Atomkraftwerk Harrisburg – per Volksabstimmung aus der Kernkraft ausgestiegen, allerdings nur auf dem Papier. 2010 folgte die Rolle rückwärts, inzwischen sind die Skandinavier stolz darauf, in die Kernkraft zu investieren. Belgien verlängert die Laufzeiten um zehn Jahre, um einen drohenden Blackout abzuwenden – unter Federführung einer grünen Energieministerin. Die Niederlande kassierten den Ausstieg und planen neue Meiler. Litauen stellte sein letztes Atomkraftwerk 2009 ab und will nun neu bauen. Selbst Japan, wo sich 2011 der verheerende GAU in Fukushima ereignete, setzt wieder auf Kernkraft.

Und die Deutschen tun es auch: Denn die deutsche Energiewende funktioniert nur, weil im europäischen Strommarkt viele Kernkraftwerke Strom liefern. So freute sich der Präsident der Bundesnetzagentur, Klaus Müller (Grüne), im Januar darüber, dass in Frankreich viele Kernkraftwerke wieder ans Netz gegangen sind. So können die Franzosen, die mehr als zwei Drittel ihres Stroms mit Kernspaltung erzeugen, das deutsche Netz stabilisieren.

Ukrainische Meiler sind „in Ordnung“

Jüngst erklärte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), die Ukraine werde an der Atomkraft festhalten. „Das ist völlig klar – und das ist auch in Ordnung, solange die Dinger sicher laufen. Sie sind ja gebaut.“ Die Ukraine möchte wieder mehr Strom nach Westeuropa exportieren. Auch sonst sind Atomkraftwerke in Ordnung, solange sie nicht auf deutschem Boden stehen. In Schweden ist die bundeseigene Uniper Eigner der Meiler in Oskarshamn, Ringhals und Forsmark.

Vor diesem Hintergrund wirkt der deutsche Ausstieg so biedermeierlich wie ein Spitzweg-Bild. Alle Bitten der Nachbarn, die verbliebenen drei Meiler weiterlaufen zu lassen, verhallten, sie stören unsere Anti-AKW-Spießigkeit. Auch der Klimaschutz, ohne den sonst kaum ein Politikersatz auskommt, spielt keine Rolle mehr. Zwar wünschen alle, dass Sonne und Wind die Kernenergie ersetzt, wahrscheinlich aber wird Kohle diesen schmutzigen Job erledigen: Es geht um Grundlast, um den Strom, der immer fließt, auch wenn kein Wind geht und keine Sonne scheint. Schon jetzt ist Deutschlands Strom in der Erzeugung dreckiger als der aller Nachbarn mit Ausnahme von Polen und Tschechien.

Kohle ist hundertmal klimaschädlicher

Eine Kilowattstunde, die mit Kohle hergestellt wird, verursacht bezogen auf Bau, Produktion und Entsorgung rund 1150 Gramm CO2 pro Kilowattstunde – Wind 86 Gramm. Kernkraft liegt demnach bei zwölf Gramm CO2-Ausstoß. Das sagt nicht der Lobbyverband der Kernkraftbranche, sondern der Weltklimarat IPCC. Hört auf die Wissenschaft? Nur, wenn uns die Botschaft gefällt.

Die Wirtschaftsweise Veronika Grimm riet im Herbst zu längeren Laufzeiten, die den Strompreis um bis zu 13 Prozent senken könnten. „Ich empfehle, in dieser schwierigen Situation keine Möglichkeit ungenutzt zu lassen“, sagt sie. Die Theologin Katrin Göring-Eckardt weiß es besser. „Der Strompreis wird natürlich günstiger werden, je mehr Erneuerbare wir haben“, versprach sie am Dienstag. „Wind und Sonne, die kriegen wir immer zum Nulltarif.“ Atomkraft sei hingegen „teuer, sowohl in der Herstellung, in der Produktion, als auch danach“.

Glaube ersetzt Wissen. Wünschen die Wirklichkeit. Wir machen uns die Welt, wie sie uns gefällt. So kann man Taka-Tuka-Land regieren, aber nicht die größte Volkswirtschaft Europas.