Hamburg. Mehr als ein Jahrzehnt dominierte der Wunsch die Energiepolitik – nun ist die Wirklichkeit zurück. Ein Blick zurück.

Hinterher ist man immer schlauer. Und doch sollte man das Vorher kennen – auch um zu wissen, wann dieses Land und vor allem die CDU so falsch abgebogen sind. Der russische Überfall auf die Ukraine taucht die tollkühn-naive Energiepolitik der Merkel-Ära in ein gespenstisches Licht.

Die 10er-Jahre könnten in die Geschichtsbücher eingehen, als Zeit einer fehlgeleiteten Energiepolitik: Was mit dem überstürzten Atomausstieg 2011 begann, weil auf der anderen Seite der Welt ein Tsunami das Kernkraftwerk Fukushima havarieren ließ, setzte sich fort mit dem unzureichenden Ausbau der erneuerbaren Energien und Stromtrassen und ist mit dem Kohleausstieg noch nicht zu Ende. Um das Desaster perfekt zu machen, verhinderte die Große Koalition nicht einmal den Verkauf der Erdgasspeicher an den russischen Staatskonzern Gazprom – übrigens im Jahr 2015, ein Jahr nach Annexion der Krim.

Versorgungssicherheit steht auf dem Spiel

Die größte Industrienation Europas steht nun vor den Trümmern einer kopflosen Energiepolitik. Und ausgerechnet Wirtschaftsminister Robert Habeck und Bundeskanzler Olaf Scholz müssen retten, was nur schwer zu retten ist. Auf dem Spiel stehen die Versorgungssicherheit des Landes und die Zukunft des Standorts Deutschland, aber auch die ambitionierten Klimaziele. Inzwischen prüft der erfrischend unideologische Grünen-Politiker Habeck, ob Kohlekraftwerke länger laufen müssen, Vattenfall stoppte vorerst die Vorbereitungen zum Rückbau in Moorburg.

Das ist ein Symbol. Das Kohlekraftwerk Moorburg zeigt exemplarisch, wie sich innerhalb von eineinhalb Jahrzehnten in Deutschland die Energiepolitik gedreht hat. Der Hoffnungsträger wurde alsbald zur „CO2-Schleuder“ und zum „Klimakiller“.

Ein Blick zurück ins Jahr 2007

Beamen wir uns zurück ins Jahr 2007, als Moorburg auf den Weg gebracht wurde. Die damalige GAL hatte in der Bürgerschaft eine Aktuelle Stunde angemeldet unter dem zünftigen Titel „Kohle statt Klimaschutz – neues Kraftwerk heizt dem Klima ein“. Zur Vorgeschichte muss man wissen: Der CDU-Senat von Bürgermeister Ole von Beust hatte in Person der Staatsrätin Herlind Gundelach das große Kohlekraftwerk mit dem schwedischen Versorger Vattenfall ausbaldowert.

„Eine sichere, preiswerte und umweltfreundliche Energieversorgung ist eine elementare Voraussetzung für wettbewerbsfähige Volkswirtschaften“, sagte Senator Axel Gedaschko. „Auf Öl und Gas zu setzen, ist fahrlässig, denn das bedeutet … bei abnehmenden Ressourcen und steigenden Preisen eine zunehmende Importabhängigkeit, eine Abhängigkeit von Importen aus Ländern, die politisch und ökonomisch instabile Förderregionen sind.“

Kohlekraftwerk Moorburg ging 2015 ans Netz

Die Opposition war fassungslos. Manuel Sarrazin von der GAL fragte: „Glauben Sie wirklich, dass es für Westeuropa unsicher ist, das Gas aus Russland zu bekommen, wenn eine derartige Devisenquelle in diesen Gasimporten existiert?“ Und Monika Schaal (SPD) wehrte sich gegen das Argument, Deutschland mache sich abhängig von Putin. Man kaufe ja auch Gas aus Libyen. Wie sagte Rüdiger Kruse (CDU) in der denkwürdigen Debatte? „Ihre Ersatzlösung ist russisches Roulette, weil Sie gerne mit Herrn Schröder und seinem lupenreinen Demokratenfreund Putin russisches Roulette mit Gas spielen.“

Der Rest der Geschichte ist bekannt – nach unendlichen Querelen ging das Kohlekraftwerk Moorburg 2015 ans Netz, aber in amputierter Form. Statt eines angestrebten Wirkungsgrades von 58 Prozent wurden es nur 46,5 Prozent. 2021 wurde das modernste Kraftwerk eingemottet. Zugleich stört es keinen großen Geist, dass das alte Kohlekraftwerk in Wedel, mit einem Wirkungsgrad von 36,5 Prozent eine echte CO2-Schleuder, unverdrossen weiter schleudert.

Moorburg illustriert Klimawandel in Deutschland

Das Beispiel Moorburg illustriert den Klimawandel in Deutschland. Viel Wunsch, wenig Wirklichkeit, viel Gesinnung, wenig Verantwortung, viel Politik, wenig Physik. Seit dem 24. Februar, dem Tag des Überfalls auf die Ukraine, ist alles anders. Plötzlich sind Politik, Wirtschaft und Verbraucher froh über jedes grundlastfähige Kraftwerk. Und plötzlich fragen sich viele, woher in unsicheren Zeiten der Strom kommen soll.

Noch wird Kohle gebraucht – 2021 stieg der Anteil des Kohlestroms sogar deutlich von 24,8 auf mehr als 30 Prozent, die Einspeisung der regenerativen Energien fiel zugleich um 7,6 Prozentpunkte auf gut 42 Prozent. Hinterher ist man immer schlauer. Aber schön wäre es, manchmal auch vorher schlauer zu sein.