Hamburg. Strom soll umweltfreundlich sein, die Versorgung sicher – aber finanzierbar. 2030 könnte sich jedoch eine erhebliche Stromlücke auftun.

Es war mitten im Sommerloch, als Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier noch einmal nachrechnete. Die Bundesrepublik werde 2030 deutlich mehr Strom verbrauchen als bislang kalkuliert, gestand er überrascht ein: In acht Jahren sollen es dann doch 658 Terawattstunden Strom werden – bis dahin lag der geschätzte Verbrauch des Wirtschaftsministeriums nur bei 580 Terawattstunden. Über Nacht war der Strombedarf kurzerhand um 13,4 Prozent in die Höhe geschnellt. Dabei hatten viele Experten wegen des beschleunigten Ausbaus der Elektromobilität und der Wärmewende schon zuvor viel höhere Strommengen prognostiziert.

Was das Ganze noch brisanter macht – bis heute ist unklar, woher diese Strommenge eigentlich kommen soll. Führend ist die Bundesrepublik vor allem im Abschalten: Zum Jahresende 2021 sind mit Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen drei Atomkraftwerke vom Netz gegangen, zu Silvester 2022 soll die Kernenergie in Deutschland endgültig Geschichte sein. Und bis 2038 – gerne auch früher – will die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt zudem aus der Kohleverstromung aussteigen.

Strom: Versorgung soll auf eneuerbaren Energien und Wasserstoff basieren

„Perspektivisch wird unsere Energieversorgung im Kern auf zwei Energieträgern beruhen: auf Strom aus erneuerbaren Energien und auf Wasserstoff, der aus erneuerbar hergestelltem Strom erzeugt wird“, versprach der frühere Wirtschaftsminister. Das klingt gut – doch beim Zubau knirscht es erheblich: Die großen Stromtrassen kommen kaum voran, neue Windanlagen werden eher homöopathisch dosiert.

Detlef Stolten vom Institut für Energie- und Klimaforschung in Jülich rechnet vor, dass sich 2030 eine Stromlücke von 139 Terawattstunden auftun werde, wenn der Zubau von Sonne und Wind so schleppend weitergeht wie in den vergangenen zehn Jahren. Auch der neue Klimaschutz­minister Robert Habeck (Grüne) konstatiert „einen gehörigen Rückstand“ beim Klimaschutz. Das Land müsse die Anstrengungen „in allen Bereichen“ verdreifachen und den Ausbau erneuerbarer Energien deutlich vorantreiben.

Stromimport stieg 2020 um rund ein Drittel

Nun rächt sich ein Jahrzehnt des fröhlichen Nichtstuns. Nur die Ziele wurden immer ambitionierter, das Klimaschutzgesetz der Großen Koalition verlangte, dass bis 2030 dann 70 Prozent aus erneuerbaren Quellen kommen soll. Die Ampel passte das Ziel nun auf 80 Prozent nach oben an. Doch bei der Umsetzung hakt es.

„Wir machen uns mit der Energiewende etwas vor“, sagt der Energieexperte Pieter Wasmuth. Wasmuth war Manager bei Shell, dem Windanlagenbauer Repower und bei Vattenfall Europe und ist nun Gründungspartner bei Company Partners. „Die Zahlen zeigen es: Wir sind seit 2018 nicht weitergekommen, nur die knappe Hälfte des Stroms kommt aus regenerativem Quellen.

Strom: Quellen werden abgeschaltet

Die Lücke reduziert sich nicht, aber wir schalten immer weiter konventionelle Quellen ab.“ Im vergangenen Jahr wurde in der Metropolregion sowohl das Kohlekraftwerk in Moorburg als auch das Atomkraftwerk in Brokdorf stillgelegt. „Wir sind auf konventionelle Quellen weiter angewiesen, weil eben nicht ständig Wind weht oder die Sonne scheint, der weit überwiegende Teil des Strombedarfes in Deutschland aber industriell und gewerblich – also 24/7 – bedingt ist.“

Wasmuth sieht zwei Möglichkeiten: „Entweder wir bauen viele Gaskraftwerke. Oder wir importieren Kohle- oder Atomstrom.“ Diese Varianten unterstellen zweierlei: Es muss Investoren geben, die Gaskraftwerke bauen wollen, sowie verlässliche Gaslieferungen in ausreichender Menge zu kalkulierbaren Preisen, was seit dem Streit um Nordstream 2 nicht wahrscheinlicher geworden ist. Und Deutschland benötigt Nachbarstaaten, die mehr Strom produzieren und diesen dann exportieren. In den vergangenen Jahren war die Bundesrepublik mit ihrem großen Kraftwerkspark eher ein Exportland. Doch nun steigt der Stromimport, weil an wind- und sonnenarmen Tagen die Produktion abfällt. 2020 wuchs die Menge des importierten Stroms um rund ein Drittel, im dritten Quartal 2021 verdoppelte sich die Einfuhr­ aus der Atomnation Frankreich sogar.

EU stuft Renaissance der Kernenergie als nachhaltig ein

Unsere Nachbarn setzen auf eine Renaissance der Kernenergie. Die EU hat diese Energieerzeugung jüngst als nachhaltig eingestuft; die Deutschen sind mit ihrer Ablehnung der Atomkraft in der Minderheit. Die Belgier haben ihren beschlossenen Ausstieg unter Vorbehalt gestellt, Schweden hat den Ausstieg zurückgenommen, die Niederlande prüfen den Bau neuer Atomkraftwerke, und selbst Italien – seit 1990 kernenergiefreie Zone – diskutiert über den Wiedereinstieg.

Die neue Begeisterung für die Kernspaltung, deren Probleme bei der Entsorgung ungelöst bleiben, speist sich aus zwei Quellen: ihre Klimabilanz und die rasant steigenden Strompreise. In Deutschland dürfte die Debatte ausbleiben: „Ich habe noch von keinem Politiker einer demokratischen Partei gehört, dass er den Wiederaufbau der Atomenergie fordert“, sagte Habeck jüngst der „Zeit“. „Er müsste dann ja auch sagen, das Atommüll-Endlager möchte ich gerne in meinem Wahlkreis haben.“

Atomausstieg: "Es fehlen bald Brennstoff und Personal"

Für die Grünen ist der Atomausstieg ein Bestandteil ihrer politischen DNA, wie das C der Union oder die Arbeiterbewegung in der SPD. Es ist politisch unvorstellbar, dass die Grünen sich dieser Geschichte entledigen können. Auch Wasmuth rechnet nicht mit einer Rückkehr zum Atom: „Seit 2011 sind die Betreiber aufs Abschalten ausgerichtet, es fehlen bald Brennstoff und Personal, um die Betriebsfähigkeit über das laufende Jahr hinaus sicherzustellen.“

Klar ist aber – die Lücke in der Versorgung wird damit weiter wachsen – und die Klimaziele rücken in noch weitere Ferne. Die sechs Atomkraftwerke lieferten im dritten Quartal 2021 immerhin 14,2 Prozent der deutschen Strommenge, ein Plus im Vergleich zum Vorjahr von 1,3 Prozentpunkten. Kohle steigerte seinen Anteil gar von 26,4 auf 31,9 Prozent. Wegen des Wetters verloren Wind von 17,1 auf 16,6 Prozent und Fotovoltaik von 13,8 auf 13,3 Prozent. Der Gasanteil ging aufgrund der Preisexplosion noch deutlicher zurück und sank von 14,4 auf 8,7 Prozent, den niedrigsten Wert seit 2018. Durch die Witterung, niedrige Speicherstände in Deutschland und eine hohe Nachfrage am Weltmarkt hat sich der Gaspreis im Terminhandel mehr als verfünffacht.

Strompreis birgt sozialpolitischen Sprengstoff

Diese Dimension tröpfelt erst langsam in die politische Wahrnehmung: Die Energiewende, die einstmals nach dem Versprechen des früheren Bundesumweltministers Jürgen Trittin (Grüne) Otto Normalverbraucher monatlich nicht mehr als eine Kugel Eis kosten sollte, ist teuer geworden. Seit der Jahrtausendwende hat sich der Strompreis hierzulande mehr als verdoppelt. Das liegt nicht nur an der Förderung regenerativer Energiequellen über die EEG-Umlage, sondern auch an den Steuern und inzwischen der nationalen CO2-Abgabe. Wenn Kohlendioxid-Quellen Kohle und Gas wichtiger werden, steigen die Preise weiter. Hinzu kommen die Kosten des europäischen Zertifikatehandels. Immerhin floss ein Teil dieser Einnahmen zur Absenkung der EEG-Umlage zurück, um den Strompreis zu dämpfen.

„Wer in Glaubenssachen den Verstand befragt, kriegt unchristliche Antworten.“

Wilhelm Busch

Der Strompreis birgt nicht nur sozialpolitischen Sprengstoff, er könnte auch zu einer ernsten Bedrohung für den Standort werden. Deutschland hat noch immer relativ viele stromintensive Unternehmen: Stahlwerke, Kupfer- oder Aluminiumhütten, Chemiefirmen. Das BASF-Werk in Ludwigshafen benötigt so viel Strom wie ganz Dänemark, die energieintensiven Industrien verbrauchen in Deutschland allein rund 120 Terawattstunden Strom. Wer wird diese Großabnehmer morgen zuverlässig versorgen? Hoffnungsträger ist die Wasserstofftechnik, aber sie steckt noch in den Kinderschuhen – oder besser gesagt in Babyschläppchen. Immerhin hat sich die Hansestadt an die Spitze der Bewegung gestellt: In Moorburg soll ein 100-MW-Elektrolyseur und darum das Ökosystem einer Wasserstoffwirtschaft entstehen mit einem großen Leitungsnetz, mit Tankstellen für Schiffe und Fahrzeuge.

Strom: Wasserstoffdurchbruch in ferner Zukunft?

„Mit Wasserstoff kann man vieles machen, auch weil Elektromobilität für Flugzeuge oder schwere Baumaschinen kaum denkbar ist“, sagt Wasmuth. „Aber ich erwarte den Durchbruch nicht 2030 und wohl auch nicht 2038.“ Deshalb wäre es seiner Ansicht nach klüger gewesen, den Kohleausstieg an das Erreichen von Meilensteinen zu koppeln. „Die Wasserstofftechnologie kann eine Lösung als Speichertechnologie sein“, sagt Wasmuth. Man müsse sich aber auch mit der Frage beschäftigen, an welchen Standorten eine Erzeugung ökonomisch Sinn ergebe. „Das ist in Nordafrika eher möglich als in Hamburg.“

Auch der massive Zubau regenerativer Energiequellen vermag das Problem der Stromlücke nur zu lindern, nicht zu lösen. Der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) rechnet mit einem Stromverbrauch von 700 Terawattstunden im Jahr 2030. Die Verbandsvorsitzende Kerstin Andreae sagt, dass bis dahin etwa 100 Gigawatt für Windenergieanlagen an Land, 11 Gigawatt für Biomasse und mindestens 150 Gigawatt für Fotovoltaik nötig ist. E.on-Chef Leonhard Birnbaum spricht mindestens über eine Verdoppelung der Leistung von Windkraft an Landstand­orten. „Das bedeutet: Wenn wir die auch von der neuen Bundesregierung formulierten Klimaziele erreichen wollen, müssen wir über ganz Deutschland verteilt Windparks zubauen. Das kann man ja nicht alles nach Schleswig-Holstein stellen“, sagte er der „Welt“. Nur zum Vergleich: Das Kernkraftwerk Brokdorf produzierte so viel Energie wie mehrere Tausend Windturbinen.

Zugleich bleibt das Grundlastpro­blem. „Der reine Ausbau der erneuerbaren Energie hilft nur wenig – dann haben wir mal mehr Strom, als wir brauchen, und in Zeiten der Dunkelflaute trotzdem zu wenig Energie.“ Wasmuth rechnet vor: „Ein Jahr hat 8760 Stunden. Windkraftanlagen an Land bringen 2500 bis 3500 Stunden Volllast, auf dem Meer 4500 Stunden. Aber da fehlen uns in der Deutschen Bucht schnell die Flächen.“ Und die Stromlücke bleibe.

8000 HafenCity-Haushalte erhalten Abwärme von Aurubis

Die meisten Experten gehen davon aus, dass die absehbare Stromlücke durch den doppelten Ausstieg aus Kohle und Atom nur mit massiven Investments in neue Gaswerke möglich ist. Die Zeit drängt: „Fünf Jahre dauert allein die Genehmigung eines Gaskraftwerks“, sagt Energiemanager Wasmuth. Und es geht nicht nur um die Kraftwerke, sondern auch die Leitungen. „Noch eine Frage kommt zu kurz: Lohnt sich das für einen Investor? Derzeit ist die Liste der potenziellen Investoren doch sehr überschaubar.“ Dabei geht es nicht um eine Handvoll, sondern gleich um Dutzende Kraftwerke, die nötig werden könnten. Die Schätzungen schwanken: Die Deutsche Energieagentur hält einen Zubau der Gaskraft in Größe von 15 Gigawatt für nötig, die Boston Consulting Group kalkuliert gar mit 33 Gigawatt, was mehr als 100 neue Gaskraftwerke der 300-Megawatt-Klasse erfordern würde.

Erst kürzlich forderte Dennis Rendschmidt, Geschäftsführer VDMA Power Systems, die neue Koalition zum Handeln auf: „Um den steigenden Strom­bedarf bei gleichzeitiger Versorgungs­sicherheit zu gewährleisten, muss ein erheblicher Zubau der erneuerbaren Energien erfolgen. Hierfür müssen die Ausbauhemmnisse schnellstmöglich beseitigt werden.“ Ebenso müssten im gleichen Zeitraum wasserstofffähige Gaskraftwerke mit einer Leistung von rund 40 Gigawatt zugebaut werden. Immerhin verweisen Optimisten darauf, dass das Land mit Strom in Zukunft effizienter umgehen werde. Zudem erlaube der Fortschritt in Zukunft Wärme auszukoppeln. In Hamburg beispielsweise können 8000 Haushalte in der HafenCity dank eines neuen Abwärmekonzeptes Fernwärme von Aurubis beziehen.

"Wie halten wir den Strompreis auf akzeptabler Höhe?"

Wasmuth fordert dennoch endlich mehr Ehrlichkeit in der Debatte. „Die zentrale Frage lautet doch: Wie halten wir den Strompreis auf akzeptabler Höhe?“ Die Basis unseres Sozialstaates sei der wirtschaftliche Erfolg. „Wir benötigen eine andere Diskussionskultur – es ist nicht nur wichtig, welche Stromerzeugung ökologisch wünschenswert ist, sondern auch, wie wir unsere Volkswirtschaft versorgen wollen.“ Wasmuth fürchtet sonst die schleichende Deindustrialisierung des Landes: „Am Ende werden die energieintensiven Unternehmen ihre Investitionsentscheidungen in Bezug auf Versorgungssicherheit und Stromkosten treffen.“

Größere Neuinvestitionen habe es in dieser Branche im zurückliegenden Vierteljahrhundert de facto nicht mehr gegeben. „Auch der Mittelstand und die Familienunternehmen werden ausweichen, wenn Energie zum Luxusgut wird.“ Ganz hoffnungslos ist der Energiemanager aber nicht: „Vielleicht wird gerade der grüne Minister Habeck die nötigen Maßnahmen und Konflikte wagen“ – so wie einst der grüne Außenminister Joschka Fischer den ersten Kampfeinsatz der Bundeswehr durchsetzte. Ein Indiz dafür: Die Genehmigungsverfahren für die Ökostrom-Produktion wird die Ampel erheblich verschlanken – auch gegen den Widerstand der Bürgerinitiativen.