Hamburg. Wenn in der Reihenhaussiedlung einer aus der Reihe tanzt, ist die Gemeinschaft schnell auf der Zinne. Und fordert Videoüberwachung.
Ein Neubaugebiet ist ein Mikrokosmos. Hier kommen mit einem Mal Menschen eng zusammen, die alle zum selben Zeitpunkt ein neues Kapitel in ihrem Leben aufschlagen. Mit unterschiedlichen Vorgeschichten und Einstellungen, aber einer gemeinsamen Idee davon, wie man künftig leben möchte. Eine Schicksalsgemeinschaft, die sich zusammen ein neues Gebiet erobert. Die homogen ist, weil es meist ähnliche Familienstrukturen sind, und doch Wert auf Individualität legen.
Letzteres ist natürlich ein Problem. Zumindest wenn es um die Ausgestaltung von Haus und Garten geht. Denn da gibt es in Eigentümergemeinschaften strenge Regeln. Das geht schon im Vorgarten los. Eine andere Art von Hecke als Grundstücksbegrenzung? Widerspricht den Vorgaben zur Gartenanlage. Eine abweichende Verkleidung der Mülltonnen? Nicht erlaubt. Ästhetische Veränderungen am Carport? Abweichungen von den architektonischen Leitlinien abgelehnt.
Immobilien in Hamburg: Kein Kraut und Rüben in der neuen Siedlung
In der schicken neuen Siedlung soll schließlich nicht Kraut und Rüben herrschen. Wo kommen wir denn da hin, wenn jeder vor seiner Haustür macht, was er will? Zu einem handfesten Aufstand der Gemeinschaft, wie bei einer Freundin, die erst kürzlich in die Neubausiedlungswelt eingetaucht ist – und in der sich schnell zeigte: Selbst in klar abgezirkelten Einheiten tanzt immer irgendeiner aus der Reihe. Oder zwei.
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Wobei die Revolte gegen die Einheitlichkeit im Fall dieser beiden Nachbarn schon absurd war: Statt der vorgeschriebenen Begrünung ihres Vorgartens hatten diese nebeneinander wohnenden Hausbesitzer einen asphaltgrauen Schottergarten angelegt – garniert mit jeweils vollkommen symmetrisch von links und rechts aufeinander zuführenden Tonskulpturen. Mit makelloser Gleichförmigkeit gegen die allgemeine Einförmigkeit, so geht Anarchie im Speckgürtel.
Vor ihrem Fenster: Ein Baum voller gelber Müllsäcke
Die Aufregung in der Gemeinschaft ist verständlicherweise groß, das letzte Wort auf der Eigentümerversammlung noch nicht gesprochen.
Bei einer anderen Freundin zeigte sich, dass Grundsätze spätestens vor der Haustür des Nachbarn enden. Vor ihrer, also auf dem gemeinschaftlichen Grund, steht nämlich ein Baum. Welcher jeden Sonntag, teilweise schon ab Freitagnachmittag, von den Nachbarn dekoriert wurde: mit gelben Müllsäcken. Damit kein Getier an den Unrat geht, hatten die Bewohner angefangen, die Beutel an die Äste zu hängen. Und meine Freundin blickte nun jedes Wochenende von ihrem Küchenfenster auf zwei dutzend schwebende Säcke Plastikmüll.
Willkommen im Proseminar der Akademie für Vorortsforschung
Doch anstatt einfach der Bitte nachzukommen, den Müll vor dem eigenen Küchenfenster zu entsorgen, warf eine Gruppe von Nachbarn die Frage auf, ob das Interesse der Gemeinschaft nicht über das Wohl des Einzelnen zu stellen sei.
Wann wird aus einer Gesellschaft eine Gemeinschaft? Was sind soziale Normen und in welchem Verhältnis stehen diese zum charakteristischen Wesen von Kollektiven? Inwieweit darf Öffentlichkeit die individuelle Freiheit begrenzen? Muss einer auf Müll gucken, damit alle anderen ihn los sind? Alles Fragen für da nächste Proseminar „Lebensstile, soziale Lagen und Siedlungsstrukturen“ der Akademie für Vorortsforschung.
Immobilien in Hamburg: Wir sollten über Videoüberwachung nachdenken
Doch natürlich gibt es auch ein tolles nachbarschaftliches Miteinander. Auch in WhatsApp-Gruppen aller Bewohner. In der eines Bekannten warnt man sich gegenseitig vor in der Siedlung klingelnden Zeugen Jehovas, hilft mit Rat und Tat, zum Beispiel bei einer ausgefallenen Heizung, wenn ein Schlagbohrer gesucht wird oder sonntags ein Ei fehlt.
Es wird auch schnell informiert, zum Beispiel neulich, als jemand einen alten Kühlschrank neben den Gemeinschaftsmülltonnen abgestellt hatte. Auf die Eingangsnachricht „Weiß jemand, wem der gehört? Wenn Sperrmüll beantragt wurde, will ich nichts gesagt haben“ folgte ein gewaltiger Chatverlauf, der keine halbe Stunde später in Mitteilungen gipfelte wie: „Ich sehe nicht ein, jetzt ständig die Gebühren der Stadt zu bezahlen, wenn das ganze Viertel bei uns illegal seinen Müll entsorgt!“ und „Wir sollten über Videoüberwachung nachdenken!“
Drei Tage später war der Kühlschrank weg. Empörung gab es darüber, dass es vollkommen unbeobachtet geschah.