Raus ziehen oder nicht – für Hamburger ein hochemotionales Thema, auf das es nur eine Antwort gibt: Ich weiß es doch auch nicht.
Wir ziehen raus, wir ziehen nicht raus, wir ziehen raus, wir ziehen nicht raus, wir ziehen raus … Hm, vielleicht doch keine so gute Idee, das mit dem Gänseblümchen. Lieber eine Münze werfen. Kopf: weiter nach einem Haus im völlig überteuerten Hamburg suchen. Zahl: ins noch einigermaßen bezahlbare Umland ziehen. Oder doch Ching, Chang, Chong? Streichholz ziehen?
Hauptsache, es trifft mal jemand eine Entscheidung. Sonst dreht man sich nur im Kreis. Eine Freundin und ihr Mann hatten sich nach längerer erfolgloser Suche in Hamburg für eine Immobilie außerhalb der Stadtgrenzen entschieden – und kurz bevor es ernst wurde, kalte Füße bekommen. Fünfmal. Dann haben sie alle Pro-und-Kontra-Listen vernichtet, weder auf Bauch noch Herz noch sonstigen Gefühlsquatsch gehört, sich vergewissert, dass auf ihrem Bankkonto nicht doch über Nacht noch ein paar Hunderttausender eingegangen sind – und ein Haus in Ahrensburg gekauft. Und jetzt? Haben sie vor ihrer Tür statt gemütlicher Cafés und kleiner Geschäfte eine Neubausiedlung; für den Weg zur Arbeit, den sie vorher zu Fuß gehen konnten, brauchen sie mehr als eine Stunde. Und könnten glücklicher nicht sein.
Wer zieht schon freiwillig in einen Speckgürtel?
Wer in Hamburg auf Immobiliensuche ist und nicht gerade die reiche Erbtante beerdigt hat, wird sich früher oder später fragen, ob es nicht klüger wäre, ins Umland zu ziehen. Dort findet man zwar längst auch keine Schnäppchen mehr: Die LBS Bausparkasse hat jüngst erbarmungslos erhoben, dass Häuser im Kreis Stormarn im Vergleich zu vor fünf Jahren im Schnitt um bis zu 90 Prozent teurer geworden sind. Dennoch kostet ein Haus mit 120 Quadratmetern im Umland durchschnittlich rund 430.000 Euro – in Hamburg 691.000. Wenn man überhaupt etwas findet.
Nüchterne Zahlen – hochemotionales Thema. Ich kenne niemanden, der sich diese Entscheidung leicht gemacht hat. „Raus“ ziehen, das klingt ja schon nach verstoßen worden sein und irgendwo in der Wildnis ausgesetzt. Und mal ehrlich, wer zieht schon freiwillig in einen Speckgürtel?
Am Ende landen die meisten, die das Ich-ziehe-raus-ich-ziehe-nicht-raus-Spiel gespielt haben, doch irgendwo da draußen. Wie eine andere Freundin, die mit ihrer Familie in einer Eimsbütteler Altbauwohnung wohnte und sich das Leben vor den Toren so gar nicht vorstellen konnte. Dann kam Kind Nummer zwei, und das Immobilien-Optionen-Karussell begann sich zu drehen: Ein Haus in Hamburg suchen, gemeinsam mit Freunden ein Haus, das von zwei Parteien bewohnt werden kann, in Hamburg suchen, Suche frustriert vorläufig auf Eis legen, erste zaghafte Blicke über die Stadtgrenzen, entscheiden, dann doch lieber gleich zurück in die Heimat zu ziehen, auszuwandern, auf dem Mond zu bauen. Jetzt wohnen sie in Norderstedt und sind ebenfalls total glücklich.
Norderstedt ist noch Umland light
Gut, in Norderstedt haben sie die U-Bahn vor der Tür und immer noch die Hamburger Vorwahl, es ist also Umland light. Aber auch die Bekannten in Schwarzenbek, Heist oder Rosengarten, die aus ihrem Wohnzimmerfenster nun auf Pferdeweiden blicken, sind mit ihrer Entscheidung, Hamburg zu verlassen, einfach nur: glücklich.
Oder muss man sagen: noch? Was ist denn in einigen Jahren, wenn die Kinder größer sind? Ist man dann immer noch froh über Koppel statt Kino, Kneipe und Kultur? Wird der Nachwuchs es einem übelnehmen, wenn er auf Scheunenpartys gehen muss statt in die Schanze? Wird einem der Weg zur Arbeit, wenn das Homeoffice langsam, aber sicher doch wieder zurückgefahren wird, noch länger und anstrengender vorkommen als vor der Pandemie? Kann einem Ruhe irgendwann auf den Geist gehen?
Andererseits, was bringen diese Fragen, wenn es ohnehin in Hamburg keine Alternative gibt? Wenn die bisherige Wohnung schlichtweg zu klein ist und die Miete zu hoch? Wenn die Größe des Wunsches nach einem Garten sich umgekehrt proportional zu der Höhe des Eigenkapitals verhält? Dann wird es Zeit, eine vernünftige, vollkommen rationale, besonnene Entscheidung zu treffen.
Hätten Sie mal eine Münze?